Bei der Entwicklung eines Rahmenkonzeptes, dessen Anforderungen in Kap. 7.1. formuliert wurden (s. Tableau 35) kann auf
andere Gesundheitssysteme Bezug genommen werden (Crossing the Quality Chasm des IOM (2001) bzw. The NHS Outcome
Framework 2013/2014 (NHS 2013B)), trotzdem müssen die Eigenschaften des deutschen Gesundheitssystemes im
Vordergrund stehen (vgl. Kap. 5.1.):
● Orientierung an der Leistungsmenge,
● starke sektorale Gliederung,
● Erkrankungs- statt Präventions-Orientierung,
● Ausrichtung auf Akuterkrankungen statt auf chronische und
Mehrfacherkrankungen.
Die Faktoren, die in das Rahmenkonzept einfließen müssen, sind
ausserordentlich zahlreich und in ihren Wechselwirkungen
vielfältig (s. Tableau 36). Das in dieser Arbeit entwickelte Konzept
stützt sich zunächst auf das aus der Organisationstheorie
stammende Konzept der Expertenorganisation (professional
bureaucracy) und auf die aus der Systemtheorie stammende
Komplexitätstheorie. Diese Konzepte weisen in bestimmten
Bereichen Parallelen auf und werden hier unter dem Arbeitsbegriff
der komplexen professionellen Systembürokratie
zusammengefasst (Definition s. Tableau 25a):
● beide Konzepte betonen die Unsichtbarkeit der (gleichwohl vorhandenen) internen Regeln, in der Expertenorganisation in
Form der dezentralen Vernetzung der Fachexperten, im komplexen System grundsätzlich zwischen allen Teilen des Systems;
● die Teile des Systems und die Experten im operativen Kern der Expertenorganisation verfügen über ein hohes Maß an
Autonomie, gleichzeitig sind sie lern- und anpassungsfähig und neigen zur Selbstorganisation (in der Expertenorganisation
auf fachlichen Ebene in Abgrenzung zur Managementebene), unvorhergesehene und in ihrer Ausprägung stark differierende
Reaktionen der Organisation bzw. des Systems sind die Regel;
● beide Konzepte können hochinnovativ sein, jedoch sind die Innovationen in Art, Menge und Zeitpunkt nicht vorhersehbar
und können von außen nicht mit voraussagbarem Erfolg angestoßen
werden, insbesondere wenn es sich um Prozessinnovationen handelt
(“Innovations-Paradoxon”). Jegliche Versuche, hier Einfluss zu
nehmen, wird als Reduktion der Autonomie und als
innovationsfeindlich interpretiert;
● beide Konzepte akzeptieren Unsicherheit: der Experte in der
Expertenorganisation wird immer improvisieren müssen (“Lehrer vor
der Klasse”), die Komplexitätstheorie sieht Unsicherheit, Spannung
und Paradoxie (im Gegensatz zu linearen Modellen) sogar als
konstituierendes Bestandteil von Systemen an und erklärt eine
Reduktion dieser Erscheinungen als aussichtslos oder nur in
Ansätzen erreichbar. Diese “intrinsische Unsicherheit”, die
einerseits als Toleranz gegenüber Unsicherheit sicherlich eine
adäquate Eigenschaft darstellt, denn sie schützt vor irreführenden
linearen Konzepten, ist andererseits gerade beim Thema Qualität
und Patientensicherheit ein kritischer Punkt.
Hinzu kommt, dass nicht nur der durch die professionelle komplexe Systembürokratie beschriebene Kontext, sondern auch die
Intervention P4P selbst komplexer Natur ist (sog. ”doppelte Komplexität”, zum Begriff vgl. Shojania 2013). Unter dem Strich
kann man von
drei Basis-Merkmalen sprechen, die bei der Implementierung von P4P in einem entwickelten Gesundheitssystem eine Rolle
spielen: Innovations-Paradoxon und intrinsische Unsicherheit des Systems sowie doppelte Komplexität des
Instrumentes.
Vor diesem Hintergrund erscheint es notwendig, sich ergänzend der Frage zuzuwenden, welche Rolle den unterschiedlichen
Konzepten der Verhaltensänderung in einer komplexen professionellen Systembürokratie zukommt:
● lerntheoretische Ansätze umfassen insbesondere Feedback-Verfahren mit Belohnung, zu denen auch P4P gehört. Sie
sind wichtig, greifen aber zu kurz, da Einstellungen, professionellen Loyalitäten und sozialen Rollen, ganz abgesehen von
ökonomischen und politischen Faktoren (s.u.), eine sehr große, konkurrierende Rolle zukommt. Es hat also keinen Zweck, das
Feedback- und Belohnungsverfahren P4P als “Insellösung” einzusetzen, ohne dass die Einstellungs- und Rollenebene mit
verändert wird.
● Konzepte der sozialen Wahrnehmung thematisieren zusätzlich die Einstellungsebene und das Rollenverständnis, wichtig
vor allem bezüglich des Themas Professionalismus, denn die traditionellen Rollenbilder geraten unter Druck und müssen sich
an veränderte Bedingungen und veränderte Aufgaben innerhalb des Gesundheitssystems anpassen.
● Verhaltensänderung durch organisatorischen Wandel setzt auf einen unabhängigen Wissens- und Werte”vorrat” der
Organisation, der einer Veränderung durch Lernprozesse zugänglich ist.
Auf den ersten Blick scheint dieser Ansatz den Anforderungen zu
genügen, denn die Organisation “mit einem eigenen Leben” bildet ein
Gegengewicht gegen die professionelle Gebundenheit der Experten.
Allerdings kann der organisatorische Wandel bzw. das
Organisationslernen nur gelingen, wenn der beidseitige Austausch
zwischen Organisation/System und den Experten möglich ist, wenn also
die “Kanäle offen sind”. Hier sind genauso Zweifel angebracht wie in der
Frage, ob das Organisationslernen es mit der hochgradigen Komplexität
auf Organisations- und Systemebene aufnehmen kann.
● Die Kontext-bezogenen Theorien sind am weitesten gespannt und stellen daher die Favoriten dar, insbesondere da es mit
dem VBP-Programm in den USA und dem QOL-Programm in Großbritannien potente Beispiele gibt, in denen man bei der
Implementierung von P4P auf diese Konzepte setzt. Allerdings bedürfen diese Methoden des sozialen Marketings einer
langfristigen, strategisch aufgebauten Planung, die von der politischen Seite aus gesteuert werden muss und in ihrer Dauer
weit über eine Legislaturperiode hinausreichen. Jenseits der Kontinuität ist eine Übereinstimmung der Akteure in den
wichtigsten inhaltlichen Fragen notwendig, weiterhin sollte der zivilgesellschaftliche Bereich integriert werden.
In der Vergangenheit wurde bei den Diskussionen um P4P ebenso wie um Leitlinien-Implementierung oder Evidence-Based
Medicine sehr stark auf lerntheoretische und Modelle der sozialen Wahrnehmung (einschließlich Professionalismus) gesetzt,
Konzepte des organisatorischen Wandels und Kontext-bezogene Modelle standen und stehen nicht im Vordergrund.
Es ist daher außerst fraglich, ob P4P, selbst ein komplexes Instrument, unter diesen Voraussetzungen in der Lage ist, die
hohen Erwartungen in einem System wie dem des Gesundheitswesens zu erfüllen, ohne dass noch weitere Voraussetzungen
erfüllt sind. In erster Linie wurden in der vorliegenden Arbeit ökonomische und Vergütungsfragen (s. Kap. 4.), in der Folge
auch politikwissenschaftliche Fragen (s. Kap. 5.) diskutiert:
● Die Höhe der Qualitäts-bezogenen Vergütung und das System der monetären Kopplung an Qualitätsindikatoren und
müssen kritisch gewertet werden, insbesondere unter Berücksichtigung der Opportunitäts- und Grenzkosten.
● Zusätzlich ist die Diskontierung der P4P-Vergütung zu berücksichtigen, falls die Zahlungen nicht zeitnah, sondern mit
Zeitverzug erfolgen, u.U. sogar später als die Vergütung eventueller zusätzlicher Fallerlöse.
● Aus den Argumentationszusammenhängen der behavioural economics ist zusätzlich zu den Opportunitätskosten und der
Diskontierung eine mögliche Risikoaversion einzubeziehen, wenn für den Leistungserbringer nicht sicher ist, ob er eine
Qualitäts-bezogene Vergütung erhält (und er sich dann für die “sichere” zusätzliche Fallerbringung entscheidet). Dies kann
z.B. dann der Fall sein, wenn bei einer relativ sortierten Rankingliste die relative Position genauso von der Performance der
Mitbewerber wie von der eigenen Position abhängt. Genauso sind ein adäquates framing und die Berücksichtigung der
Tendenz zur Überschätzung zeitnaher, kleiner Zahlungen von Wichtigkeit.
● Von großer Bedeutung ist die Tatsache, dass P4P nicht als alleiniges Vergütungssystem eingeführt werden kann, sondern
immer in ein allgemeines Vergütungssystem eingebettet ist. Dieses zugrundeliegende Vergütungssystem weist immer
Anreizfunktionen auf, die unter Umständen der Qualtiäts-bezogenen Vergütung durch P4P zuwiderlaufen können (z.B. DRG-
System und starker Mengenanreiz). Man muss die Elemente einer P4P-Vergütung folglich sehr vorsichtig und gezielt in die
allgemeine “Vergütungslandschaft” integrieren.
Aus politikwissenschaftlicher Sicht sind bei der heute vorherrschenden Tendenz zu Governance-Konzepten (s. Kap. 6.1.) vier
Aspekte von Bedeutung:
● Es muss ein Rahmen erkennbar sein, der für die angestrebten Veränderungen einen Interpretations- und
Sinnzusammenhang darstellt (direction pointing).
● Ein sinnvoller Einsatz von P4P ist ohne strategische Überlegungen nicht möglich, damit die optimalen und entscheidenden
Ansatzpunkte für eine Weiterentwicklung des Gesundheitssystems identifiziert und angegangen werden können.
● Von politischer Seite muss erkennbar Verantwortung und Vorsorge getragen werden für etwaige negative Effekte der
Qualitäts-orientierten Vergütung.
● Es müssen günstige Rahmenbedingungen geschaffen werden, z.B. durch Vorgaben zur Gestaltung der instiuttionellen
Kooperationen, die für die Umsetzung verantwortlich sind. Die stärkere Einbeziehung der zivilgesellschaftlichen Ebene, die mit
dem Gesundheitssystem primär nicht verbunden, jedoch an Qualität und Sicherheit genuin interessiert ist, ist zu diskutieren.
Empfehlung 3: Rahmenkonzept für die Implementierung und die Umsetzung von P4P
P4P sollte nicht als rein lerntheoretisch begründetes, einfaches Feedback-Instrument mit Belohnungskomponente verstanden
und eingesetzt werden, dies wäre “zu kurz gesprungen”. Stattdessen müssen sowohl Konzepte des organisatorischen
Wandels und Kontext-bezogene Veränderungsstrategien als auch ökonomische, vergütungstechnische und politische
Weichenstellungen mit einbezogen werden, erst dann kann von einer realistischen Erfolgsschance ausgegangen werden. Aus
ökonomischer Sicht sind vor allem Opportunitätskosten, Diskontierung bzw. Zeitachse und Aspekte der Risikoaversion zu
bewerten, außerdem ein optimales framing. Auf der policy-Ebene geht es in erster Linie um das direction pointing
(Interpretationsebene für die anstehenden Entwicklungen) und um strategische Überlegungen bzgl. der optimalen
Einsatzgebiete der P4P-Vergütung. Weiterhin müssen günstige Rahmenbedingungen geschaffen und eventuelle negative
Nebeneffekte kontrolliert werden.
Weiter: 7. Empfehlungen für die zukünftige Nutzung von P4P, 7.4. P4P als Feedback-Instrument
Seite
Kapitel
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7. Empfehlungen für die zukünftige Nutzung von P4P
7.3. Conceptual Framework - Rahmenkonzept als notwendige Bedingung
© Prof. Dr. med. Matthias Schrappe, Venloer Str. 30, D-50672 Köln
Impressum und Datenschutz
Schrappe, M.: P4P: Aktuelle Einschätzung, konzeptioneller
Rahmen und Handlungsempfehlungen, Version 1.2.1.
Tableau 25a (aus Kap. 3.4.), Definition der
komplexen professionellen Systembürokratie:
Aus der Synthese der Konzepte Expertenorganisation
(professional bureaucracy) und Komplexitätstheorie
entwickelter Arbeitsbegriff, der auf gemeinsamen
Eigenschaften beider Konzepte wie Autonomie,
Tendenz zur Selbstorganisation, Toleranz von
Unsicherheit (“intrinsische Unsicherheit”) und
“Innovationpardoxon” (Innovationen nicht planbar bei
großer Innovationsnähe) beruht und zur Beschreibung
sowohl der organisatorischen als auch der
Systemebene verwendet wird.
Tableau 35: Rahmenkonzept - Anforderungen (Kap. 7.1.)
● die Vielfalt der Faktoren, die das Verhalten der Leistungs-
anbieter und den Effekt von P4P beeinflussen, berücksichtigen,
● das Gesundheitssystem als Ganzes in seiner Reaktion auf
P4P mit einbeziehen,
● die Situationen, in denen P4P als wirksames Instrument
sinnvoll einzusetzen ist, und die methodischen Anforderungen
an die Gestaltung des Instrumentes charakterisieren,
● die eventuellen negativen Konsequenzen antizipieren, damit
Gegenmaßnahmen getroffen werden können,
● P4P in das Zusammenspiel mit anderen Vergütungssystemen
und anderen Qualitäts-relevanten Entwicklungen im
Gesundheitswesen (z.B. Leitlinienentwicklung, Evidence-based
Medicine und Infection Control) einfügen,
● realistische Zielerwartungen für die Evaluation formulieren,
● auf dieser Basis die politischen Entscheider realistisch
informieren.
M. Schrappe
P4P: Aktuelle Einschätzung,
konzeptioneller Rahmen und
Handlungsempfehlungen