Expertenorganisation und komplexes System, so wie dargestellt in den beiden vorangegangenen Kapiteln, reichen aus
mehreren Gründen für sich allein nicht aus, um den konzeptionellen Rahmen - wie im vorliegenden Artikel angestrebt - für
Einsatz und Evaluation eines Instrumentes wie P4P zu bilden. Das Konzept der Expertenorganisation beschreibt, ausgehend
vom Konflikt zwischen dezentral organisierten professionellen Experten und zentralem Management, die Steuerungs- und
Anpassungsproblematik von Einrichtungen im Gesundheitswesen
hervorragend, ist aber auf Organisationen beschränkt und für sich
genommen kaum umfassend auf das ganze Gesundheitssystem
anwendbar, insbesondere nicht auf die Gestaltung der Finanzierung.
Die Komplexitätstheorie ergibt andererseits ein gutes Modell für die
Steuerungsproblematik auf Systemebene und natürlich auch in
Organisationen, bleibt auf der organisatorischen Ebene aber relativ
undifferenziert und könnte auch zu Entschuldigungstendenzen führen
(”ist ja doch nicht zu machen”). Gesundheitsversorgung und Prävention
werden nun tatsächlich aber lokal und durch Organisationen erbracht, daher bedarf es eines spezifischeren Konzeptrahmens,
der die Gestaltung der Versorgung sowohl in der Peripherie als auch auf Systemebene beschreibt. Hier scheint die Synthese
der Konzepte Expertenorganisation (professional bureaucracy) und komplexes System einen guten Ansatz zu bilden.
Analogien beider Konzepte (s. Tableau 24) sind bereits auf den ersten Blick erkennbar: die verborgenen Regeln der dezentral
agierenden Experten, die geringe Steuerungsfähigkeit, die Schwierigkeit, von außen einzuwirken. Die weitergehende Analyse
erbringt dann an mehreren Punkten systematische Parallelen, die die Verwendung des kombinierten Konzeptes sinnvoll
erscheinen lassen:
1) Beide Konzepte betonen die Unsichtbarkeit der (gleichwohl vorhandenen) internen Regeln. In der Expertenorganisation
sind diese in der dezentralen Vernetzung der Fachexperten verborgen, im komplexen System sind sie zwischen allen Teilen
des Systems als veränderbare Strukturen vorhanden.
2) Die Teile des Systems und die Experten (im operativen Kern der Expertenorganisation) verfügen über ein hohes Maß an
Autonomie, gleichzeitig sind sie lern- und anpassungsfähig. Trotz der Autonomie sind die autonomen Teile miteinander
verbunden, sie neigen zur Selbstorganisation (in der Expertenorganisation auf fachlichen Ebene in Abgrenzung zur
Managementebene). Da die Regeln nicht bekannt sind, sind unvorhergesehene und in ihrer Ausprägung stark differierende
Reaktionen der Organisation bzw. des Systems die Regel.
3) Beide Konzepte können hochinnovativ sein, jedoch sind die Innovationen in Art, Menge und Zeitpunkt nicht vorhersehbar
und können von außen nicht mit voraussagbarem Erfolg angestoßen werden. Der Grund für dieses “Innovations-Paradoxon”
liegt darin, dass einerseits einengende und innovationsfeindliche Strukturen fehlen, andererseits die zur Innovation
erforderliche Kooperation nur spontan erfolgen kann und daher nicht zu antizipieren ist. Jegliche Reduktion der Autonomie
(z.B. im Versuch einer Komplexitätsreduktion mit dem Versuch der besseren Steuerbarkeit) als innovationsfeindlich
interpretiert. DIe Innovationsfähigkeit der Expertenorganisation bezieht sich primär auf Produktinnovationen, da Prozess- oder
Strukturinnovationen ohne die nicht-professionellen Kräfte erschwert sind.
4) Beide Konzepte akzeptieren Unsicherheit - dieser Punkt erscheint als der Wichtigste. Die Diagnose- und
Standardisierungs-gestützte Koordination in der Expertenorganisation ist immer nur begrenzt in der Lage, den Experten in
seiner Unabhängigkeit zu leiten, er wird immer improvisieren müssen (s. das Beispiel “Lehrer vor der Klasse”). Die
Komplexitätstheorie sieht Unsicherheit, Spannung und Paradoxie (im Gegensatz zu linearen Modellen) sogar als
konstituierendes Bestandteil von Systemen an und erklärt eine Reduktion dieser Erscheinungen als aussichtslos oder nur in
Ansätzen erreichbar. Die Medaille “Unsicherheit”, so könnte man sagen, hat hier in besonderem Maße zwei Seiten: einerseits
ist die Toleranz gegenüber Unsicherheit sicherlich eine adäquate Eigenschaft, denn sie schützt vor irreführenden linearen
Konzepten. Andererseits sind Unsicherheiten natürlich soweit nicht erwünscht, als dass sie mit Qualitäts- und
Sicherheitsmängeln vergesellschaftet sind. Unter dem Begriff der “intrinsischen Unsicherheit” wird weiter unten darauf näher
eingegangen.
Natürlich haben beide Konzepte auch maßgebliche Unterschiede, in der ersten Linie durch ihren Horizont. Die professional
bureaucracy ist ein Konzept für die Gestaltung einer Organisation, die Komplexitätstheorie bildet durch ihre Nähe zur
Systemtheorie einen sehr viel weiteren Horizont ab. Außerdem ist die Expertenorganisation ein bürokratisches System, basiert
somit auf der funktionellen (verrichtungsorientierten) Arbeitsteilung und hat mit der sog. Maschinenbürokratie deshalb ihre
Inflexibilitätsproblematik und Resistenz gegenüber Prozess- und Strukturinnovationen gemeinsam. In der System-
/Komplexitätstheorie ist dagegen eine verrichtungsorientierte Arbeitsteilung nur ein möglicher Mechanismus der
Aufgabenerledigung unter vielen, und lange nicht der typische; die Flexibilität ist hoch. Komplexe Systeme haben auch eine
höhere Integrationsfähigkeit als Expertenorganisationen, letztere haben (fast) ausschließlich die Fähigkeit zur Integration auf
fachlicher Ebene.
Trotz dieser Unterschiede ist die Verbindung der Konzepte Expertenorganisation auf der einen Seite und Komplexitätstheorie
auf der anderen Seite in der Anwendung auf das Gesundheitswesen sinnvoll. Beide Konzepte ergänzen sich in ihrem
Organisations- bzw. Systemhorizont, sie haben sich überschneidende zentrale Eigenschaften (s.o.) und sie haben
phänomenologische Übereinstimmungen, wenn man z.B. an die Parallelitäten zwischen den Spannungsfeldern Experte vs.
Management und Standesorganisation/Selbstverwaltung vs. Politik denkt
(zur Einbeziehung der politischen Ebene s. Kap. 6). Ohne dass der
Begriff m.E. bislang anderenorts kodifiziert wurde, wird hier deshalb als
Arbeitsbegriff für diese Arbeit der Terminus “komplexe professionelle
Systembürokratie” vorgeschlagen (zur Definition s. Tableau 25). Der
Begriffsbestandteil “Systembürokratie” gibt darin wieder, dass es sich
einerseits um ein (komplexes) System handelt, andererseits aber um ein
verrichtungsorientiert strukturiertes System mit hochgradiger und
strukturrelevanter Arbeitsteilung.
Weiter: 3. Motivation ..., 3.5. Verhaltensänderung, 3.5.1. Einführung
Seite
Kapitel
Seite
Kapitel
3. Motivation, Organisation, System
3.4. Konzeptioneller Rahmen: komplexe professionelle Systembürokratie
© Prof. Dr. med. Matthias Schrappe, Venloer Str. 30, D-50672 Köln
Impressum und Datenschutz
Schrappe, M.: P4P: Aktuelle Einschätzung, konzeptioneller
Rahmen und Handlungsempfehlungen, Version 1.2.1.
Tableau 24: Gemeinsamkeiten von
Eypertenorganisation und komplexen Systemen
● Verdeckte interne Regeln
● Teile/Experten verfügen über große Autonomie
● Neigung zur Selbstorganisation
● Innovationsparadox: hochinnovativ, Innovation aber
nicht vorhersehbar
● Unsicherheit wird akzeptiert (”intrinsische Unsicherheit”)
Tableau 25: Definition “Komplexe professionelle
Systembürokratie”
Aus der Synthese der Konzepte Expertenorganisation
(professional bureaucracy) und Komplexitätstheorie
entwickelter Arbeitsbegriff, der auf gemeinsamen
Eigenschaften beider Konzepte wie Autonomie,
Tendenz zur Selbstorganisation, Toleranz von
Unsicherheit (“intrinsische Unsicherheit”) und
“Innovationpardoxon” (Innovationen nicht planbar bei
großer Innovationsnähe) beruht und zur
Beschreibung sowohl der organisatorischen als auch
der Systemebene verwendet wird.
M. Schrappe
P4P: Aktuelle Einschätzung,
konzeptioneller Rahmen und
Handlungsempfehlungen