► Die Theorien der Sozialen Wahrnehmung stellen Einstellungen (beliefs), Haltungen (attitudes) und Absichten (intentions) in
den Vordergrund: nicht das bewusste System, sondern das autonome System (”Bauchgefühl”) steuern das Verhalten (King et
al. 2013). Es gibt enge Bezüge zu den behavioural economics und der Kritik der bewußten, auf der Bais optimaler Information
vorgenommenen Nutzenmaximierung. Wissen (knowledge) und Können (skills) sind von notwendiger Bedeutung, werden aber
durch die Einstellungsebene dominiert, die ihrerseits kein individuelles, sondern ein soziales Konstrukt darstellt (s. Tableau 28).
Im Ergebnis definiert sich das Individuum in seiner sozialen Rolle und entwickelt auch seine Veränderungsbereitschaft im
Rahmen dieser Rolle. Rollen existieren auch im Innovationsprozess, man kann auf diese Weise Innovatoren (Erfinder), early
adopters (frühe Anwendung), early majority (beginnende Umsetzung in der Breite), late majority (Umsetzung in der Breite) und
laggards (Nachzügler) unterscheiden.
Um Verhaltensänderung zu erreichen, beschränkt man sich nicht mehr auf die Vermittlung von Wissen und auf Feedback-
Mechanismen, sondern man versucht, gezielt über Veränderungen der sozialen Rollen die Einstellungsebene zu beeinflussen.
So wird aus education, der Wissensvermittlung, die Identifikation von
Meinungsführern (opinion leader), die dann gezielt beeinflusst
werden, so dass sie aufgrund ihrer Vorbildfunktion (Pittet et al.
2004) das Verhalten der breiten Masse im gewünschten Sinne
beeinflussen (sog. targeted education). Ähnlich geht das academic
detailing vor, bei dem Ärzten bestimmte Verhaltensweisen direkt
“auseinandergesetzt” werden, wobei der wissenschaftlichen Ebene
große Bedeutung zukommt, oder auch der local consensus process,
bei denen die lokalen Akteure als Gruppe hinsichtlich der
Veränderung miteinander in Bezug gesetzt werden (Bero et al.
1998).
Dem Konzept und den Methoden dieser Richtung wurde bereits früh große Bedeutung und auch eine gewisse Akzeptanz
zuteil, so z.B. in der Diskussion um die Implementierung von Leitlinien (Cabana et al. 1999) und der Umsetzung EBM-basierter
Behandlungsmethoden (Greco und Eisenberg 1993, Bero et al. 1998, Grol und Grimshaw 2003, Bloom 2005). Neben den
Methoden zur Förderung der Veränderung wurden auch die entgegenstehenden Barrieren genauer spezifiziert, die die
Umsetzung in das entsprechende Verhalten behindern können, insbesondere wenn Wissen/Können und die Einstellungsebene
nicht kongruent sind (Cabana et al. 1999).
Inhaltlich orientieren sich die traditionellen Rollenvorstellungen stark an
den drei Begriffen interne Motivation (Cassel und Jain 2012),
Professionalismus (mit dem Kernbereich Autonomie) und Altruismus
(Patientenorientierung, Gesundheitsversorgung darf nicht “ökonomisiert”
werden) (Frolich et al. 2007). Die Rollenzuschreibung des Teamplayers
und der aktiven Organisationsveränderung (sowie des politischen
Umfeldes) stehen nicht im Vordergrund, allerdings zeigen sich zwischen
den verschiedenen Gesundheitsberufen deutliche Unterschiede. Man
muss in dieser Situation nun fast zwingend davon ausgehen, dass dieses
Rollenverständnis in Zukunft unter einen erheblichen Veränderungsdruck
gerät, der von einer mehr auf Koordination, Teamarbeit und
Interprofessionalität ausgerichteten Gesundheitsversorgung ausgehen,
weil die Anforderungen aus der Alterung der Gesellschaft und der
Zunahme multipler, chronischer Erkankungen anders nicht zu bewältigen
sind (Ricketts und Fraher 2013). Unweigerlich wird sich daraus auch eine verstärkte Diskussion von “Management-Themen”
wie Führung (“medical leadership”) und Vorbildfunktion ergeben (Schrappe 2009), denn beide sind unabhängige Prädiktoren
wichtiger Maßnahmen in der Gesundheitsversorgung (z.B. Händedesinfektion (Pittet et al. 2004)). Wenn es gut läuft, könnte
man sagen, wird zu den Rollen-Kompetenzen, die in diesem Zusammenhang vermittelt werden, auch das Umgehen mit
komplexen Situationen gehören, die ja einerseits den Alltag bestimmen, dem sich die Gesundheitsberufe schon immer
gegenübersehen, die andererseits ein Thema darstellen, das durchaus auch zum Motor für die Entwicklung neuer
Rollenbildern taugen kann (Fraser und Greehalgh 2001).
Weiter: 3. Motivation ..., 3.5. Verhaltensänderung, 3.5.3. Organisatorischer Wandel
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Kapitel
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3. Motivation, Organisation, System
3.5. Verhaltensänderung in der “komplexen professionellen Systembürokratie”
3.5.2. Soziale Wahrnehmung
© Prof. Dr. med. Matthias Schrappe, Venloer Str. 30, D-50672 Köln
Impressum und Datenschutz
Schrappe, M.: P4P: Aktuelle Einschätzung, konzeptioneller
Rahmen und Handlungsempfehlungen, Version 1.2.1.
Abb. 9
Tableau 28: “If hand hygiene were a new drug it
would be used by all” (Stone 2001), knapper kann man
das Dilemma nicht fassen. In Deutschland könnten durch
adäquate Händedesinfektion mehrere 1000 Todesfälle
jährlich verhindert werden. Würden diese 1000 Todesfälle
auf eine behandelbare Krankheit zurückgehen, die mit
einer (nebenwirkungsarmen) Medikation zu behandeln
wäre, wäre es kaum denkbar, dass Ärzte und
Pflegepersonal angeben, sie hätten keine Zeit, dieses
Medikament zu verabreichen (zu den Gründen der Non-
Compliance s. z.B. Grol und Grimshaw 2003).
M. Schrappe
P4P: Aktuelle Einschätzung,
konzeptioneller Rahmen und
Handlungsempfehlungen