Geht man von den vier vorgenannten Systemeigenschaften aus (s. Tableau 30), kann man Vergütungssysteme daraufhin
untersuchen, ob sie sich hinsichtlich Mengenanreiz, Prävention und Behandlung chronischer Erkrankungen günstig mit P4P-
Vergütungselementen kombinieren lassen (die Sektorbezogenheit ist selbst Strukturmerkmal der Vergütungssysteme). Als
weiterer Parameter für diese Überlegungen strategischer Natur ist die Tendenz zur Risikoselektion durch P4P hinzuzuziehen
(s. Tableau 30). Zur Systematik der unterschiedlichen Vergütungssysteme kann man nach Gegenstand folgende Einteilung
vornehmen:
● Einzelleistungsvergütung
● Vergütung nach Zeiteinheit
● Sektorale Pauschalen
● Transsektorale Pauschalen für (Akut-)Erkrankungen und Erkrankungsepisoden
● Erkrankungspauschalen
● Sektorale Populationspauschalen
● Populationspauschalen
Die resultierenden Kosten entstehen nach Zahl der Erkrankungen, den Behandlungsepisoden pro Erkrankung, der Zahl und
dem Typ der Leistungen in jeder Episode, der Zahl und der Art der individuellen Prozesse, Medizinprodukte und Medikamente
in jeder Behandlung und letztendlich der Preise jedes Prozesses, Produktes
bzw. Medikamentes (Miller 2009).
► Bei Einzelleistungsvergütung besteht ähnlich wie bei sektoralen
Pauschalen ein starker Mengenanreiz, der Eingriffe und andere
abrechenbare Leistungen fördert und Krankheitsvermeidung sowie die
“begleitende Behandlung” chronischer Erkrankungen unattraktiv macht.
Obwohl Einzelleistungsvergütung immer noch eine große Rolle spielt (z.B.
Privatversicherte in Deutschland, fee for service bei Medicare in den USA, vgl. hier Chen und Ackerly 2014), wird deren
Einsatz in einem Gesundheitssystem der Zukunft (Alterung, Chronizität, Multimorbidität) auf Bereiche mit vermuteter
Unterversorgung beschränkt werden. Im breiten Einsatz ist wenigstens nicht zu erwarten, dass P4P den Mengenanreiz
austarieren kann. Soweit sich P4P auf distinkte Prozessindikatoren bezieht, besteht sogar die Gefahr, dass der Mengenanreiz
zunimmt (z.B. durch zusätzliche diagnostischen Maßnahmen, die P4P-angereizt sind; s. hierzu auch Kap. 4.2.). Man kann
zwar, wie es in vielen Projekten der Fall ist, einfache Präventionsmaßnahmen mit P4P belohnen (z.B. Impfprogramme), aber
schon bei den chronischen Erkrankungen wird das schwieriger, ganz abgesehen davon, dass bei Aufhebung der
Informationsasymmetrie die direkte Kontrahierung der betreffenden Leistungen sinnvoller ist. Die Einzelleistungsvergütung ist
eine der Situationen, wo Ergebnisindikatoren größere Bedeutung zukommen kann. Allerdings ist darauf hinzuweisen, dass es
in diesem Fall die Gefahr einer Risikoselektion durch P4P besteht, obwohl eine Einzelleistungsvergütung eigentlich keinen
großen Anreiz hierzu bietet - man würde also einen unerwünschten
Effekt durch P4P (soweit Ergebnisindikatoren genutzt werden)
“importieren”. Ein schlagendes Argument ist aber, dass die
Opportunitätskosten so hoch sind, da die alternative Erlössteigerung
durch die Erbringung einer zusätzlichen Leistung leichter möglich ist als
komplexe Maßnahmen zur Qualitätsverbesserung bzw. -
dokumentation. Vordergründig erscheint also P4P durch
Ergebnisindikatoren unter Einzelleistungsbedingungen plausibel, in
Gesamtsicht der Argumente hat P4P bei diesem Vergütungssystem
aber keine Zukunft.
► Vergütung über Zeiteinheit: Ob man es nun bedauert oder nicht,
dieses Vergütungssystem (z.B. tagesgleiche Pflegesätze) ist ein
Auslaufmodell. Der Mengenanreiz ist auf die Zahl der abgerechneten
Pflegetage beschränkt. Prävention und Behandlung von Chronizität
wird nicht angereizt, ist aber nicht ausgeschlossen - hier wäre durchaus
ein Einsatzgebiet von P4P zu sehen. Auch könnte man einzelne
Qualitäts-relevante Indikatoren sinnvoll einsetzen, u.U. kombiniert mit
Kostenaspekten, um der Verlängerung der Verweildauern etwas
entgegenzusetzen. Eine Gefahr der Risikoselektion besteht kaum.
► Vergütung durch sektorale Pauschalen: Die wichtigsten sektoralen Pauschalen sind die DRG’s in der stationären
Versorgung. Ihre Funktion besteht in der Transparenzsteigerung in der Krankenhausversorgung, die wichtigste Voraussetzung
für eine stärkere Integration des ambulanten und stationären Sektors. Solange die sektorale Abgrenzung jedoch aufrecht
erhalten wird, geht von den DRG’s ein starker Mengenanreiz aus, zusammen mit einer deutlichen Akzentuierung operativer,
Prozeduren-gebundener, operativer Akutleistungen zulasten der Versorgung chronisch-mehrfach Erkrankter und zulasten der
Prävention. Wenngleich es sich nur um eine sektorale Pauschale handelt, besteht in diesem Bereich ein Anreiz zur
Risikoselektion, dem man durch fortlaufende Anpassung des DRG-Systemes zuvorzukommen versucht, die letztendlich nichts
anderes ist als die laufende Integration von Einzelleistungskompontenten. Auf den ersten Blick erscheint eine Kombination
von DRG-Vergütung und P4P sinnvoll, wobei in erster Linie auf die Nutzung der im DRG-System vermehrt vorliegenden
administrativen Abrechungsdaten Bezug genommen wird. Dieses kann allerdings nur dann gelten, wenn es sich um ein
Qualitäts-adjustiertes DRG-System handelt, was - das muss immer wieder betont werden - beim deutschen DRG-System
nicht der Fall ist. Die Abrechnungsdaten weisen insbesondere ein Defizit in ihrer zentralen Eigenschaft auf, nämlich der
Sensitvität (s. oben), mit anderen Worten, man übersieht die Qualitätsprobleme, um die es geht (s. z.B. Azaouagh und
Stausberg 2008, Calderwood et al. 2014, Miller et al. 2001, Pawlson et al. 2007, Powell et al. 2001, s. auch SVR 2008
Nr.654ff).
Ganz abgesehen von dieser Problematik ist es vor allem aber fraglich, ob P4P mit dem immanenten Mngenanreiz des DRG-
Systemes kompatibel ist. Im besten Falle würde P4P diesen Anreiz dämpfen können, aber dies ist nicht anzunehmen. Wie in
Kap. 4.2. ausgeführt (principal agent-Problematik), sprechen sowohl
● die hohen Opportunitätskosten: eine zusätzlich erbrachte DRG-Leistung wird immer einer eventuellen Qualitäts-bezogenen
Vergütung vorgezogen, als auch
● die Diskontierung: die Qualitäts-bezogene Vergütung wird im Allgemeinen später als die Leistungsvergütung realisiert, und
● die Risikoaversion: die zusätzliche DRG-Leistung ist “sicher”, die zusätzliche Vergütung durch Qualität hängt z.B. vom
Ranking ab,
eindeutig dagegen (Frolich et al. 2007). Dies gilt zumindestens so lange, bis der Mengenanreiz durch Veränderungen im
Mehrleistungsausgleich abgemildert wird (s. Koalitionsvertrag 27.11.2013). Dabei ist darauf hinzuweisen, dass aufgrund der
vorgenannten Ausführungen der Mehrleistungsausgleich die Vergütung der zusätzlichen Leistung unter die variablen Kosten
drücken müsste, um wirksam zu werden. Die Problematik besteht vor allem bei Verwendung administrativ erhobener
Ergebnisindikatoren, denn bei einem immanenten underreporting dieser Indikatoren (mangelnde Sensitivität administrativer
Daten) bei gleichzeitiger Fähigkeit zur Risikoselektion in großen Verbünden lässt sich eine Mengensteigerung mit dem
Argument der “guten Qualität” hervorragend durchsetzen. Die einzige Möglichkeit besteht in der Verwendung von
Prozessindikatoren ohne Mengenanreiz, idealerweise solcher Indikatoren, die die transsektorale Integration widerspiegeln
(z.B. Vereinbarung mit dem ambulanten oder Reha-Bereich zum MRSA-Screening).
Weiter: 5. Integriertes Vergütungssystem, 5.3. Von der transsektoralen zur Populationspauschale
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5. Integration in bestehende Vergütungssysteme
5.2. Einzelleistungsvergütung und sektorale Pauschalen
© Prof. Dr. med. Matthias Schrappe, Venloer Str. 30, D-50672 Köln
Impressum und Datenschutz
Schrappe, M.: P4P: Aktuelle Einschätzung, konzeptioneller
Rahmen und Handlungsempfehlungen, Version 1.2.1.
Abb. 14: Die Vergütungssysteme erfassen je nach
Sektorzugehörigkeit Kosten, die sich aus Prozessen
(Leistungen), Krankheitsepisoden (oder
Akuterkrankungen), Erkrankungen in ihrer Gesamtheit
und den Kosten, die für die Behandlung einer Person
bzw. einer Population entstehen, zusammensetzen
(modif. n. Miller 2009)
M. Schrappe
P4P: Aktuelle Einschätzung,
konzeptioneller Rahmen und
Handlungsempfehlungen