► Verhaltensänderung durch Lernen im Kontext bezieht alle drei vorgenannten Vorgehensweisen mit ein und basiert mehr
noch als diese auf einer vorweg ausgearbeiteten, tragfähigen Umsetzungsstrategie (Anonymous 1999). Rollenveränderungen
der Berufsgruppen (Grol und Grimshaw 2003, Timmermanns und Mauck 2005), Einbeziehung der Patienten (Bero et al. 1998,
Hibbard et al. 2012) und Kampagnen der Massenmedien (Grol und Grimshaw 2003) gehören ebenso dazu wie die Evaluation
der erreichten Wirksamkeit und deren öffentlichen Kommunikation. Als Beispiel
können in Deutschland die Kampagnen “Gib AIDS keine Chance” der Bundeszentrale
für gesundheitliche Aufklärung und die Aktion Saubere Hände (Abb. 10) des Robert-
Koch-Institutes, der Gesellschaft für Qualitätsmanagement in der
Gesundheitsversorgung e.V. (GQMG) und des Aktionsbündnis Patientensicherheit e.V.
(APS) dienen. Diese Kampagnen weisen eine Nähe zum social marketing auf und
müssen in mehreren Phasen geplant werden (z.B. Konzeption und Planung,
Identifikation von Kommunikationskanälen, Entwicklung der Informationskanäle,
Implementierung der Intervention, Evaluation, Feedback, vgl. Cook et al. 2004).
Bezüglich P4P können sicherlich das VBP-Programm des CMS und das QOL-
Programm des NHS als solche umfassenden Konzepte angesprochen werden.
Diese Konzepte sind selbstredend am mächtigsten von allen Strategien zur
Verhaltensänderung, wären aber bei institutionellen Veränderungen natürlich
überdimensioniert. Für Instrumente wie P4P, die auf Systemebene eingesetzt werden,
sind sie aber von großer Bedeutung. Wie im Kapitel über die Verantwortung der Politik
(s. Kap. 6) weiter auszuführen sein wird, sind diese Konzepte nur dann erfolgreich,
wenn alle Player hinsichtlich der entscheidenden Merkmale einer solchen Intervention
kongruente Meinungen vertreten, ein nur selten zu erreichender Zustand.
Zusammenfassend kann hinsichtlich der Frage, welche Rolle den unterschiedlichen Konzepten der Verhaltensänderung in
einer komplexen professionellen Systembürokratie zukommt, folgendes festgehalten werden:
● lerntheoretische Ansätze, insbesondere Feedback-Verfahren, sind wichtig, greifen aber zu kurz, wenn sie allein angewandt
werden. Der Grund liegt in der großen Bedeutung von Einstellungen, professionellen Loyalitäten und sozialen Rollen, ganz
abgesehen von ökonomischen und politischen Faktoren (s.u.). Es hat also keinen Zweck, das Feedback- und
Belohnungsverfahren P4P als “Insellösung” einzusetzen, ohne dass die Einstellungs- und Rollenebene mit verändert wird.
● Konzepte der sozialen Wahrnehmung reichen insofern näher an den Kern des Problems heran, weil sie zusätzlich zu
Feedbackverfahren auch die Einstellungsebene und das Rollenverständnis thematisieren. Insbesondere erscheint dies
bezüglich des Themas Professionalismus wichtig zu sein, denn die traditionellen Rollenbilder werden zunehmend unter Druck
geraten und müssen sich an veränderte Bedingungen und veränderte Aufgaben innerhalb des Gesundheitssystems anpassen.
● Verhaltensänderung durch organisatorischen Wandel setzt auf einen unabhängigen Wissens- und Werte”vorrat” der
Organisation, der einer Veränderung durch Lernprozesse zugänglich ist. Auf den ersten Blick scheinen diese Ansätze den
Anforderungen zu genügen, denn die Organisation “mit einem eigenen Leben” bildet ein Gegengewicht gegen die
professionelle Gebundenheit der Experten in der professionellen Systembürokratie. Allerdings kann der organisatorische
Wandel bzw. das Organisationslernen nur gelingen, wenn der beidseitige Austausch zwischen Organisation bzw. System und
den Experten möglich ist, wenn also die “Kanäle offen sind”. Hier sind genauso Zweifel angebracht wie in der Frage, ob das
Organisationslernen es mit der hochgradigen Komplexität auf Organisations- und Systemebene aufnehmen kann, ungeachtet
der offenen Problematik, ob organisationelle Konzepte auf das Gesamtsystem des Gesundheitswesens anwendbar sind.
● Die Kontext-bezogenen Theorien sind am weitesten gespannt und stellen daher die Favoriten dar, insbesondere da es mit
dem VBP-Programm in den USA und dem QOL-Programm in Großbritannien potente Beispiele gibt, in denen man bei der
Implementierung von P4P auf diese Konzepte setzt. Zunächst darf nicht vergessen werden, dass diese Methoden des
sozialen Marketings einer langfristigen, strategisch aufgebauten Planung bedürfen, die von der politischen Seite aus gesteuert
werden muss und in ihrer Dauer weit über eine Legislaturperiode hinausreichen. Jenseits der Kontinuität ist eine
Übereinstimmung der Akteure in den wichtigsten inhaltlichen Fragen notwendig; es sei daran erinnert - nur als Beispiel -, dass
in Deutschland noch nicht einmal der differenzierte Stellenwert von Ergebnis- vs. Prozessindikatoren geklärt ist. Wie später
noch auszuführen sein wird, muss das Thema Qualität und Sicherheit im Gesundheitswesen über den i.e.S. politischen Raum
hinaus in den zivilgesellschaftlichen Bereich hineinwachsen, ähnlich wie es die Leapfrog-Initative (www.leapfrog.org) in den
USA getan hat.
Ohne den letztendlich in Kapitel 7 zusammenfassend dargestellten Empfehlungen vorgreifen zu wollen, kann man jedoch jetzt
schon festhalten, dass das Feedback-Verfahren P4P nur im Rahmen von begleitenden Maßnahmen sinnvoll einsetzbar ist, die
weitergehende Veränderungspotentiale eröffnen (Einstellungs- und Rollenveränderungen, Organisationslernen, soziales
Marketing). Nur unter diesen Bedingungen können die vier Kontextdomänen, die in Kapitel 3.1. aufgeführt wind (s. Abb. 6), in
einer Art beeinflusst werden, dass eine Realisierung des durch P4P bewirkten Effektes möglich erscheint. Bevor die
Empfehlungen auf diesem Hintergrund konkreter ausformuliert werden können, müssen noch die ökonomischen Anreize
einschließlich ihrer Grundannahmen, die “konkurrierend” wirksamen Vergütungssysteme und die Rolle der politischen
Gestaltung diskutiert werden, was in den nächsten drei Kapitel geschehen soll.
Weiter: 4. Ökonomie
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3. Motivation, Organisation, System
3.5. Verhaltensänderung in der “komplexen professionellen Systembürokratie”
3.5.4. Lernen im Kontext, Zusammenfassung
© Prof. Dr. med. Matthias Schrappe, Venloer Str. 30, D-50672 Köln
Impressum und Datenschutz
Schrappe, M.: P4P: Aktuelle Einschätzung, konzeptioneller
Rahmen und Handlungsempfehlungen, Version 1.2.1.
Abb. 10
M. Schrappe
P4P: Aktuelle Einschätzung,
konzeptioneller Rahmen und
Handlungsempfehlungen