Auf der organisatorischen Ebene allein lässt sich folglich ein umfassendes Rahmenkonzept nicht entwickeln. Diese Situation
hat dazu geführt, dass in den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts systemtheoretische Ansätze bemüht wurden, um das
Verhalten von Individuen und Institutionen gerade im Hinblick auf
Innovationen im Gesundheitswesen zu beschreiben (s. Abb. 6b).
So nutzte das Institute of Medicine in seinen Reports “To Err Is
Human” (Kohn et al. 1999) und “Crossing the Quality Chasm” (IOM
2001) einen explizit systemtheoretischen Ansatz und unterlegte
damit das gesamte P4P- bzw. Value Based Purchasing-Programm
für die Versorgung von Medicare-Patienten in den USA (s. Tableau
21). Der Schwerpunkt lag dabei auf dem Begriff der Komplexität
(Plsek 2001C). Eine parallel erscheinende, kurze Artikelserie zur
Komplexitätstheorie von P. Plsek und T. Greenhalgh im BMJ im
Jahr 2001 spielte ebenfalls eine große Rolle (Plsek und
Greenhalgh 2001, Wilson und Holt 2001, Plsek und Wilson 2001,
Fraser und Greenhalgh 2001). Es soll an dieser Stelle dahingestellt
bleiben, ob die Akzeptanz dieses Konzeptes der Komplexität
(complexity) als Systemeigenschaft nicht zumindestens teilweise
durch seine sprachliche Nähe zum Begriff “Kompliziertheit”
(complicacy) zu erklären ist (s.u. Tableau 23), verbunden mit der
Entlastung der individuellen Verantwortung gegenüber einem undurchschaubaren, “komplexen” System, das im Alltag des
Gesundheitswesens als nicht zu verstehen und unbeeinflussbar erlebt wird. Denn es gibt keinen Zweifel: die
Komplexitätstheorie steht in heftigem Widerspruch zu den linearen Modellen, die gerade in der Medizin und
Gesundheitsversorgung vorherrschen, gerade auch in der klinischen Versorgung und im Verständnis organisatorischer
Prozesse.
Daher sei hier die Definition von Komplexität und die Abgrenzung zum Begriff der Kompliziertheit vorangestellt (s.u. Tableau
23). Ein komplexes System besteht aus zahlreichen, in ihrer Zahl schwankenden, nicht-linear per multiplem Feedback
miteinander verbundenen Teilen, die zu in Zeit
und Stärke unvorhersehbare Ereignissen
führen, einzelne, nicht-explizite und
veränderbare interne Regeln kennen und zur
Selbstorganisation, Adaptation an die Umwelt
sowie zu Lernprozessen in der Lage sind (s.
auch Richardson 2008). Entsprechend der
systemtheoretischen Provenienz ist das
System größer als die Summe der Einzelteile,
wobei kleine Veränderungen sehr große Effekte
aufweisen können (”Sensibilität gegenüber
Anfangsfehlern”, das Schlagen des berühmten
Schmetterlingsflügels). Anders als einem
linearem “Maschinenmodell”, das durch
Eindeutigkeit, Trend zum Reduktionismus, Vorhersehbarkeit und dem Versuch der Spannungsreduktion charakterisiert ist, sind
einem komplexen System gerade Spannung, Angst, Unsicherheit und Paradoxien konstituitiv zu eigen. Es sind weiterhin sog.
Attraktoren, Konstruktionen von Zwischen- und Endzuständen höherer Stabilität, vorhanden, zu denen das System sich
hinorientiert, die aber von außen nicht sichtbar sind.
Komplizierte Systeme (Beispiel Ferrari, s. Tableau 22) sind dagegen zwar schwer zu verstehen, man kann jedoch trotzdem
die Regeln erlernen, und vor allem hat es Sinn, nach den Regeln zu suchen; bei komplexen Systemen wird man sie dagegen
nicht finden. Ein Computer ist zweifelsohne eine komplizierte
Struktur, aber wer hat das Internet erfunden? - das Internet
kann ebenso wie das Wetter als paradigmatisches Beispiel
für komplexe Syteme gelten.
Der geschilderte Ansatz hat natürlich enorme Auswirkungen
auf Bereiche wie die klinische Versorgung von Patienten,
Management-Konzepte und die (Klinische) Wissenschaft.
Insbesondere die Behandlung chronischer Erkrankungen,
z.B. die Versorgung eines Diabetes-Patienten, kann als
komplexes System verstanden werden, bei dem derart viele
Einflussfaktoren ineinandergreifen, dass lineare Modell an
ihre Grenzen kommen (Wilson und Holt 2001). Auch
organisatorische Umgebungen wie z.B. ein Operationssaal sind wegen ihrer hochgradigen Interrelatedness (man könnte hier
am ehesten von “Vernetzung” sprechen, s. Kannampalli et al. 2011) als komplexes System aufzufassen, ebenso aber auch als
ein kompliziertes System, bei dem es bestimmte Faktoren zu spezifizieren
gilt, die das System sicherer machen (Matern et al. 2006). Im
Management wird eine komplizierte Situation mittels Experten (sie
kennen die Regeln) gelöst, in einer komplexen Situation können
Experten jedoch fehl am Platz sein, wenn die ins Spiel gebrachten
Regeln beim Blick auf das komplexe System nur hinderlich sind (die sog.
“todsicheren” Lösungen, s. Baker 2001).
Weiter: 3. Motivation ..., 3.3. “It’s not a rocket science”, 3.3.2. Doppelte
Komplexität
Seite
Kapitel
Seite
Kapitel
3. Motivation, Organisation, System
3.3. “It’s not a rocket science!”
3.3.1. System- und Komplexitätstheorie
© Prof. Dr. med. Matthias Schrappe, Venloer Str. 30, D-50672 Köln
Impressum und Datenschutz
Schrappe, M.: P4P: Aktuelle Einschätzung, konzeptioneller
Rahmen und Handlungsempfehlungen, Version 1.2.1.
Tableau 21: Quality as a system property (Institute of Medicine 2001, S. 4f)
“The committee is confident that Americans can have a health care system of the
quality they need, want, and deserve. But we are also confident that this higher
level of quality cannot be achieved by further stressing current Systems of care.
The current care Systems cannot do the job. Trying harder will not work. Changing
Systems of care will.
(...) Members of the health care workforce are already trying hard to do their jobs
well. In fact, the courage, hard work, and commitment of doctors, nurses, and
others in health care are today the only real means we have of stemming the flood
of errors that are latent in our health care systems.
Health care has safety and quality problems because it relies on outmoded
systems of work. Poor designs set the workforce up to fall, regardless of how hard
they try. If we want safer, higher-quality care, we will need to have redesigned
systems of care, including the use of information technology to support clinical
and administrative processes.”
Tableau 22: Die alte Metapher vom Ferrari und dem Urwald ist
hervorragend geeignet, den Begriff der Komplexität zu erklären.
Ein Ferrari ist ein zweifelsfrei ein kompliziertes System, dessen
konstituierende Regeln nicht sofort erkennbar sind. Mit
entsprechendem Aufwand ist es jedoch trotzdem zu durchdringen.
Anders beim Urwald: die Metapher zielt darauf ab, dass komplexe
Systeme keine erlernbaren Regeln aufweisen, nach denen die Folgen
(und die Wirksamkeit) bestimmter Interventionen sicher vorhersagbar
sind. Man kann sie nur “auf Sicht”, zeitnah und durch indirekte
Erkenntnisse über ihr Funktionieren beeinflussen. Der größte Fehler
ist es hier, mit starken, einfachen Interventionen einen
durchschlagenden Effekt erreichen zu wollen. Dieser frustrane
Versuch ist dennoch häufig im Gesundheitswesen zu beobachten
(Snowden und Boone 2007).
Abb. 6b: Die organisatorische und gesellschaftliche
Kontextdomänen als komplexe Systeme
Tableau 22.1: Eigenschaften komplexer Systeme
● bestehen aus zahlreichen Teilen
● Zahl der Teile veränderlich
● Teile sind interdependent
● nicht-linear mit multiplem Feedback verbunden
● interne Regeln nicht-explizit
● Ereignisse in Zeit und Stärke nicht vorhersehbar
● Neigung zur Selbstorganisation
● Adaptation an Umwelt und Lernen möglich
● Sensibilität gegenüber Anfangsfehlern
● Akzeptanz von Paradoxon und Unsicherheit
● Orientierung an Zwischen- und Endzuständen
relativer Stabilität (Attraktoren)
M. Schrappe
P4P: Aktuelle Einschätzung,
konzeptioneller Rahmen und
Handlungsempfehlungen