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► Ökonomische Grundannahmen: Spätestens seit der Finanzkrise 2007 werden in der ökonomischen Diskussion und in der
Öffentlichkeit die Grundannahmen des rational choice als Basis für ökonomische Entscheidungen zunehmend in Frage
gestellt. Es gibt eine große Zahl empirischer Untersuchungen z.B. aus dem Bereich der Verhaltensökonomie (behavioural
economics, sog. Prospect Theory), die nachweisen, dass ökonomische Entscheidungen nicht zuverlässig und ausschließlich
unter dem Aspekt der individuellen Nutzenoptimierung zu beschreiben sind (Kahnemann und Tversky 1979). Auch Im
Gesundheitswesen existieren entsprechende Hinweise, dass Patienten und Ärzte nicht als ”perfectly rational decision makers”
(Loewenstein et al. 2013) anzusehen sind, auch wenn eine Zeitlang die Theorie des health care consumerism hoch im Kurs
stand (Angell und Kassirer 1996). Eine große Rolle spielt diese
Thematik besonders beim sog. Qualitätswettbewerb (s.o.), einem
Konstrukt, das Qualitätsinformationen neben Menge und Preis
als wettbewerbswirksam ansieht, und dem P4P und Public
Reporting zugerechnet werden.
Bei Public reporting, der Veröffentlichung von Leistungserbringer-
bezogenen Qualitätsindikatoren ohne finanzielle Anreize, ist man
lange davon ausgegangen, dass diese Informationen Patienten
und Zuweiser dazu veranlassen würden, die Anbieter mit
besserer Qualität zu bevorzugen und diesen dadurch eine
bessere Marktchance zu verschaffen. Solche Daten werden in
größerem Umfang in Deutschland im Rahmen der
Qualitätssicherung im Krankenhausbereich nach §137 SGB V
(AQUA 2013) veröffentlicht. In den USA werden Indikatoren-Sets
zu insgesamt neun Bereichen der Gesundheitsversorgung
publiziert, u.a. aus der stationären Krankenhausversorgung
(Hospital Inpatient Quality Reporting Program (Hospital-IQR)),
der ambulanten Krankenhausversorgung, aus Arztpraxen, der
stationären und häuslichen Pflege und den Krankenkassen bzw.
Managed Care Organisationen (Medicare C und D, s. CMS 2012A). Einer der Unterschiede zum deutschen System besteht
darin, dass Patientenbefragungen eine große Bedeutung zukommt (z.B. 11 Indikatoren beim Hospital-IQR). 90% der anderen
Indikatoren sind Prozessindikatoren und werden nicht risikoadjustiert.
Die verfügbaren empirischen Studien konnten den Effekt einer “informierten Wahl” des Patienten jedoch nie belegen (Werner
und Ash 2005). Vielmehr war es so, dass die Anbieter, insbesondere die Krankenhäuser, auf der “Hitliste”, die auf Basis der
Indikatoren gebildet werden, nicht an hinterer Stelle stehen wollten, und daher von sich aus Qualitätsverbesserungs-
maßnahmen einleiteten, ohne durch Patienten dazu veranlasst worden zu sein (zusammenfassende Darstellung der Studien
und Systematischer Review s. SVR 2008, Nr. 685ff, aktueller Berenson et al. 2013). Die Patienten fallen als
“Nutzenmaximierer” sozusagen aus. Hinzukommt, dass die Rolle der anderen “Player”, also z.B. der Zuweiser, der Versicherer,
der öffentlichen Meinung, die Haltung der Patienten hinsichtlich Zugehörigkeit zum Stadtviertel, zurückzulegende
Entfernungen, die Bedeutung anderer Eigenschaften der betreffenden Anbieter, die von den veröffentlichten
Qualitätsindikatoren nicht beschrieben werden, bis hin zur Frage, ob die für die Patienten relevanten Informationen überhaupt
und wenn dann verständlich dargestellt wurden, dass alle diese Fragen letztendlich unklar bleiben. Bei P4P und Value-based
Purchasing wird die Situation noch unübersichtlicher.
Auch Ärzte sind nicht als reine Nutzenmaximierer anzusehen. Zwar gibt es Studien, die zeigen, dass Ärzte auf finanzielle
Anreize reagieren (Hickson et al. 1987), aber es geschieht nicht regelmäßig (Rosenthal und Frank 2006) und der Effekt ist
insbesondere bei bestimmten Themen wie Prävention nur gering (Hillman et al. 1998, Hillman 1999, Cook et al. 2004). Die
Verhaltensökonomie hat hier aber entscheidende neue Impulse gegeben, die letztendlich auf eine Integration von
psychologischen, soziologischen sowie später auch neurobiologischen Erkenntnissen in das Modell des Verhaltens unter
ökonomischen Anreizen hinausläuft (Kahnemann und Tversky 1979, aktuell Verma et al. 2014). Diesen Ansätzen ist
gemeinsam, dass Entscheidungen nicht allein auf der Basis einer monetären oder oder sekundär in monetären Einheiten zu
beschreibenden Abwägung erfolgen, sondern maßgeblich unter dem Einfluss des autonomen Systems (”Bauchgefühl”) (s.
Kap. 3.5.2.) und sozialer Faktoren. Dabei treten einige mittlerweile gut beschriebene Effekte auf (Damberg et al. 2007, Verma
et al. 2014, zu den entsprechenden Befunden im HQIP-Projekt s. Jha et al. 2012, Ryan et al. 2012B):
● Framing: Entscheidungen werden in einem referentiellen Zusammenhang getroffen, der die Interpretation erleichtert oder
sogar erst ermöglicht. Dies betrifft z.B. die sog. Risiko-Aversion (”der Spatz in der Hand ist besser als die Taube auf dem
Dach”); befragte Personen akzeptieren lieber eine Woche sicher garantierten Urlaub als die 50%ige Chance auf einen
dreiwöchigen Urlaub (Damberg et al. 2007). Hiermit hängt die Diskontierung zusammen: weil die Gefahr gesehen wird, dass
ein Ereignis in der Zukunft nicht eintritt, obwohl es mehr Nutzen erbingen könnte, wenn es tatsächlich eintritt, wird lieber ein
geringerer Nutzen in der Gegenwart realisiert (lieber 10€ heute als 20€ in einem Jahr). Genauso sind Unterschiede zu
beobachten, je nachdem ob eine Entscheidung als möglicher Verlust (loss-frame) oder als möglicher Gewinn (gain-frame)
interpretiert wird. So wird ein leistungsabhängiger Gehaltsanteil gleicher Größe höher eingeschätzt, wenn das Gesamtgehalt
am Jahresende ausgezahlt und der variable Anteil bei Nicht-Erreichen der Ziele am Jahresende abgezogen wird, als wenn er
am Jahresende erst gewährt wird. Personen sind meist Verlust-avers, d.h. ein entgangener Gewinn wird weniger hoch
bewertet als ein gleich großer Verlust (Werner und Dudley 2012).
● Es wird versucht, die Entscheidung mit einer überschlägigen globalen Situationseinschätzung zu bewältigen, die sich
meist auf einen gewählten Fixpunkt bezieht. Wenn z.B. ein Ziel zu weit weg ist, als dass es erreicht werden kann, wird auch
keine Anstrengung mehr unternommen (goal gradient), insbesondere wenn das Ziel auch nicht im Bereich der
Handlungsoptionen liegt (z.B. Ergebnisindikatoren bei niedriger Inzidenz, oder zu hoch liegender absoluter Grenzwert (s. Abb.
11, Fall C)). Es können auf diese Weise Fehleinschätzungen groben
Ausmaßes vorkommen, Personen fahren z.B. durch die ganze Stadt, um
10€ beim Kauf eines Radioweckers zu sparen, würden aber nie ähnliche
Anstrengungen unternehmen, um 10€ bei einem LED-Fernseher zu
sparen (Damberg et al. 2007). Vor die Wahl gestellt, ob ein Todesfall
schlimmer wäre als kein Todesfall (Reduktion um 100%), oder 1000
Todesfälle schlimmer als 999 (Reduktion um 0,1%), entscheiden sich die
meisten Personen für den ersten Fall, obwohl absolut die Differenz jedes
Mal ein Todesfall beträgt (Überschätzung relativer Risiken (Verma et al.
2014)).
● Isolation effect: zur Beurteilung einer Entscheidungssituation wird
eine der möglichen Dimensionen selektiert und die anderen werden
unterdrückt. Werden z.B. mehrere Interventionen gleichzeitig
implementiert, kann die Vielzahl nicht erfasst werden, nur einzelne
werden herausgegriffen, es kann aber nicht vorhergesagt werden welche
dieser Interventionen.
Eine gut handhabbare und etwas stärker praxis-orientierte Zusammenfassung haben diese entscheidungsrelvanten Elemente
im sog. Mindspace-Konzept gefunden (King et al. 2013). Wenn z.B. Patienten dazu veranlasst (to nudge them - “schupsen”)
werden sollen, an Präventionsmaßnahmen teilzunehmen, ist es oft weniger wichtig, dieses mit Überlegungen zum absoluten
Nutzen z.B. in Form von gewonnen Lebensjahren zu tun (Rauchen aufhören!), sondern sich zu überlegen, wer die Botschaft
überbringt (messenger), wie die Umwelt sich verhält (norms, priming) und was die default-Einstellung ist, also was als
Normalfall angesehen wird - die Abweichung muss vom Individuum aktiv betrieben und begründet werden. Das Mindscape-
Konzept ist sehr auf das framing fokussiert.
Zusammenfassend können aus den Kapiteln 4.1. bis 4.3. unter besonderer Berückichtigung der Principal Agent- und der
Prospect Theory (Verhaltensökonomie) folgende Grundsätze abgeleitet werden:
● Der alleinige Einsatz relativer Anreize über Rankinglisten (”die besten 5”) ist kritisch zu sehen, da die poor performers , evtl.
sogar die Mehrheit der teilnehmenden Institutionen verloren gehen, weil sie kaum Chancen sehen (goal gradient). Zu
empfehlen ist eine Kombination mit relativer Verbesserung und gestaffelten absoluten Grenzwerten.
● Die Zahlung der Anreize muss zeitnah, verlässlich und nachvollziehbar erfolgen, weil sonst Diskontierung und Risiko-
Aversion ein zu großes Gewicht erhalten.
● Insbesondere bei Ergebnisindikatoren muss die Risikoadjustierung optimal gestaltet werden, weil sich ansonsten bei
Erkrankungen mit niedriger Inzidenz vor allem kleinere Einrichtungen wegen des Morbiditäts- und Komorbiditätsrisikos nicht an
dem P4P-Programm beteiligen bzw. alternativ Risikoselektion betreiben. Daher sind Prozessindikatoren, die keiner
Risikoadjustierung bedürfen, zu präferieren, evtl. ergänzt durch einige Ergebnis- (z.B. adjustierte Mortalität) und
Strukturindikatoren.
● Kleinere, häufigere Zahlungen, die aber relativ hoch erscheinen, sind wirkungsvoller als größere aber nur selten gezahlte
Summen, die z.B. im Rahmen des Gesamterlöses eines Krankenhauses kaum auffallen (Überschätzung relativer Gewinne).
● Grundsätzlich ist die Einbehaltung von Vergütungsbestandteilen der stärkere Anreiz als die zusätzliche Vergütung (Verlust-
Aversion), ein solches Vorgehen wird jedoch evtl. als unfair und motivationsmindernd erlebt.
● Die Indikatoren sollten “unverbraucht” sein und nicht schon vorher Gegenstand anderer Systeme (z.B. Public Reporting)
gewesen sein, weil dann kein weiterer Effekt mehr auftritt (ceiling).
● Ein P4P-Programm sollte nicht gleichzeitig mit mehreren anderen Regelungen eingesetzt werden (isolation effect).
● Um so mehr ein Behandlungsablauf durch Leitlinien beschrieben und durch EBM “durchdrungen” ist, um so mehr gewinnt
eine Einzelfallvergütung gegenüber P4P an Vorteil, deren Anreizwirkung in jedem Fall überlegen ist. Ist die
Informationsasymmetrie aber erhalten, ist P4P sinnvoll einzusetzen.
● Außerdordendlich wichtig ist ein adäquates framing (Messenger, Normen, Default-Einstellungen, Kontext-Bedingungen).
Weiter: 5. Integriertes Vergütungssystem
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4. Ökonomie
4.3. Ökonomische Grundannahmen: Behavioural Economics
© Prof. Dr. med. Matthias Schrappe, Venloer Str. 30, D-50672 Köln
Impressum und Datenschutz
Schrappe, M.: P4P: Aktuelle Einschätzung, konzeptioneller
Rahmen und Handlungsempfehlungen, Version 1.2.1.
Abb. 13: Das Mindspace-Framework stellt ein
Acronym von 9 Elementen dar, die Verhalten
beeinflussen.
Abb. 12: Die Behavioural Economics berücksichtigen auch
Faktoren wie Altruismus: eine zufällig ausgewählte Person (1)
erhält 100€ in Cent-Stücken (2). Sie kann alles behalten unter der
Bedingung, nach Rückkehr in den Raum (3) den anderen 9
Personen etwas abzugeben, egal wie viel (4). Nutzenmaximierung
würde bedeuten: jeder erhält 1 Cent, Rest: 99,91 €. Empirisch (im
Versuch) erhält jedoch jede Person ca. 2,50€, Rest nur 77,50€.
M. Schrappe
P4P: Aktuelle Einschätzung,
konzeptioneller Rahmen und
Handlungsempfehlungen