Jenseits der Datenlage lässt sich die eigentliche Bedeutung des Premier Hospital Quality Incentive Demonstration Project
(HQIP) jedoch erst in seinem langfristigen gesundheitspolitischen Zusammenhang abschätzen. Die Wurzeln gehen bis in die
90er Jahre des letzten Jahrhunderts zurück und weisen gleichzeitig weit in die Zukunft (zur Gesetzgebung s. Tableau 10).
HQIP war letztlich das Pilotprojekt und die Vorbereitung für das Value-based Purchasing (VBP)-Programm, eine der zentralen
Säulen der umfassenden Neuorientierung, in dem sich das Gesundheitswesen der USA derzeit befindet, und wozu folgende
Elemente gehören (abgesehen von der Ausweitung der Versicherungspflicht) (Belmont et al. 2011):
● “Never Events”: Fortsetzung der Non-Payment for Non-Perfomance Politik,
● Value-Based Purchasing (VBP)-Programm für sämtliche Bereiche des US-Gesundheitswesens,
● Bundled Payment: Form der “integrierten Versorgung” für 10 Erkrankungen bzw. Krankheitsgruppen,
● Accountable Care Organizations: Zusammenschlüsse (”Netze”) von Anbietern, die mindestens 5000 Medicare-Versicherte
versorgen,
● Health Homes für Medicaid-Versicherte,
● Verstärkung der Public Reporting Programme.
Bemerkenswert ist dabei aber nicht allein die umfassende Breite des Ansatzes, sondern die Tatsache, dass man hier ein
eindeutiges Bekenntnis zu Qualität und Sicherheit als Merkmale der Gesundheitsversorgung abgibt, und zwar ausgehend von
einem sehr ausdifferenzierten Grundverständnis des Gesundheitssystems der USA. Von diesem Grundverständnis, das im
IOM-Report “Crossing the Quality Chasm - A New Health System for the 21st
Century” ausführlich dargelegt ist (IOM 2001), werden einerseits die
notwendigen Veränderungen zur Verbesserung der Gesundheitsversorgung
abgeleitet, andererseits aber auch ein Weg zur Implementierung dieser
Veränderungen einschließlich einer Abschätzung der Größe der zu erwartenden
Effekte entwickelt. Man bezieht sich dabei explizit auf die Erkenntnisse der
Systemtheorie und beschreibt das Gesundheitssystem als sog. komplexes
System. Komplexe Systeme weisen, anders als komplizierte Systeme, keine
erkennbaren Regeln auf und sind aus unabhängigen Akteuren, Institutionen und
Systemfaktoren zusammengesetzt, die gleichzeitig derartig in Wechselwirkung
stehen, dass nicht vorhersehbare Entwicklungen an der Tagesordnung sind und
das System äußerst anpassungsfähig, innovativ und kreativ agiert (Plsek 2003). Zusammengehalten wird dieses System von
verborgenen Regeln und “Schatten-Systemen” sowie Zuständen mit bedingter Stabilität, die Orientierung geben (sog.
Attraktoren).
Weiter unten wird genauer auf die Frage eingegangen, ob diese Sichtweise für die Interpretation unserer Kenntnisse über ein
Instrument wie P4P sowie für dessen Weiterentwicklung nützlich ist. An dieser Stelle sei zunächst nur hervorgehoben, dass
(a) hier der seltene Fall vorzuliegen scheint, dass Gesundheitspolitik auf der Basis einer dezidiert dargelegten
Grundkonzeption betrieben wird, und dass
(b) es sich bei dem genannten Grundverständnis um eine Konzeption handelt, die äußerst langfristig und in sehr stabiler Form
entwickelt wurde (IOM 2001, IOM 2007, CMS 2011B, CMS 2012, Chien und Rosenthal 2013).
Für die inhaltliche Federführung sind hier insbesondere das National Quality Forum (NQF), die Joint Commisssion on
Accreditation of Healthcare Organizations (JCAHO) und die Centers of Medicare and Medicaid Services (CMS), die
Nachfolgeorganisation der HCFA, und die Agency for Healthcare Research and Quality (AHRQ) zu nennen:
► Ausgangspunkt war die Schaffung des sog. HEDIS-Datensatzes (Health Effectiveness Data and Information Set) anlässlich
der Öffnung der HMO’s (Managed Care, Health Maintenance Organizations) für Medicare-Versicherte durch das Balanced
Budget Act 1997, der Informationen über die Qualität der Managed Care Organisationen zur Verfügung stellte.
► In der Folge wurde vom Institute of Medicine im Jahr 1999 der bekannte Report “To Err Is Human” zur Patientensicherheit
veröffentlicht, der diese spezielle und grundlegende Thematik bereits sehr intensiv und sachgerecht im Licht organisatorischer
und systemischer Zusammenhänge diskutierte (Kohn et al. 1999). Zwei Jahre später folgte der IOM-Report “Crossing the
Quality Chasm” (IOM 2001), der auf der Basis der System- und Komplexitätstheorie eine umfassende Analyse der Situation in
den USA sowie ein umfassendes Zukunftskonzept vorstellte, das neben Führungsverantwortung, neuen Management-
strategien, gezieltem Einsatz von Informationstechnologie und Evidence-Based Medicine vor allem eine Reform der
Vergütungssysteme ganz im Vordergrund stellte. Dies geschah in der Erkenntnis, dass manche Vergütungsansätze einer
Qualitätsverbesserung geradezu entgegenstehen, wenn sie z.B. nur das Leistungsvolumen, nicht aber Qualität oder Effizienz
vergüten (z.B. Einzelleistungsvergütung) (IOM 2001, S. 181ff).
► Als Konsequenz der angestoßenen Diskussionen wurde 2003 im Medicare Prescription Drug, Improvement and
Modernization Act (MMA) und 2005 im Deficit Reduction Act ein Public Reporting-Programm unter der Bezeichnung Hospital
Inpatient Quality Reporting Program (Hospital-IQR) eingeführt (IOM 2007, CMS 2012, s. unten), alsbald im Jahr 2006 im Tax
Relief and Health Care Act ergänzt durch Pay for Reporting-Elemente.
► Bereits im Deficit Reduction Act (in Kraft seit dem 8.2.2006) wurden Einschränkungen in der DRG-Vergütung bei Auftreten
von Komplikationen beschlossen, sozusagen ein Non-Payment for Non-Performance-Programm (Graves und McGowan
2008, Pronovost et al. 2008). Ab 2015 ist zusätzlich ein 1%-Abzug für die Krankenhäuser im Quartil mit den meisten diesser
“Never Events” geplant (Belmont et al. 2011).
► Auf den Erfahrungen des Hospital-IQR und der No-Payment Policy baute dann wiederum das HQIP auf, seinerseits
Pilotprojekt für das VBP-Programm, das im Krankenhausbereich bereits im Jahr 2012 gestartet ist und in der Perspektive auf
alle Bereiche des Gesundheitswesens ausgedehnt wird (CMS 2012, s. unten).
Weiter: 2. Langfristige Effekte, 2.4. Value-based Purchasing
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2. Langfristige Effekte und Weiterentwicklung
2.3. HQIP: Gesundheitspolitischer Kontext in den USA
© Prof. Dr. med. Matthias Schrappe, Venloer Str. 30, D-50672 Köln
Impressum und Datenschutz
Schrappe, M.: P4P: Aktuelle Einschätzung, konzeptioneller
Rahmen und Handlungsempfehlungen, Version 1.2.1.
Tableau 10: Wichtigste Gesetzgebung mit
gesundheitspolitischen Schwerpunkt in den
USA aus den letzten Jahren:
Balanced Budget Act (1997)
Medicare Prescription Drug, Improvement and
Modernization Act (MMA) (2003 )
Deficit Reduction Act (2005)
Tax Relief and Health Care Act (2006)
Patient Protection and Affordable Care Act (2010)
M. Schrappe
P4P: Aktuelle Einschätzung,
konzeptioneller Rahmen und
Handlungsempfehlungen