Wie in den vorangegangenen Kapiteln bei der Skizzierung eines Rahmenkonzeptes für die Einführung, Funktion und
Evaluation von P4P dargelegt, werden die Konzepte von Expertenorganisation und Systemkomplexität (zusammengefasst als
komplexe professionelle Systembürokratie) stark durch die Annahmen, die man zu grundsätzlichen ökonomischen Fragen trifft
(z.B. principal agent Konzept und Risikoaversion), und durch die Auswirkungen der Vergütungssysteme geprägt, in die P4P im
Einzelfall “eingebettet” ist. Zur Komplettierung eines Rahmenkonzeptes verbleibt nun noch ein weiteres und letztes Element,
nämlich die politische Ebene. Auch hier spielt es eine große Rolle, von welchen Grundannahmen zur Funktion “der Politik” man
dabei ausgeht.
Sehr häufig legt man bei der Betrachtung der politischen Ebene ein unhinterfragtes, hierarchisches Verständnis zugrunde: die
Politik strukturiert, verordnet, beschließt, und die Peripherie folgt. Je nach Standpunkt wird die Professionalisierung der Politik
akzeptiert, die Intransparenz beklagt und das “Versagen der Politik” irritiert zur Kenntnis genommen, wenn sich
Einzelinteressen (wieder einmal) durchgesetzt haben. Dass es so einfach nicht ist, dass das hierarchische Modell
zumindestens überdacht werden muss, liegt andererseits fast auf der Hand und ist dem Betrachter direkt zugänglich, denn
ganz offensichtlich ist die politische Funktion, besonders im Gesundheitswesen, selbst Bestandteil der ausgeprägten
Komplexität, die einen solchen gesellschaftlichen Bereich kennzeichnet. Aber ebensowenig, wie Expertenautonomie und
Komplexität die Existenz von Regeln und eine externe Einflussnahme kategorisch ausschließen (sondern sie lediglich als
verdeckt und wenig vorhersehbar beschreiben), so wenig kann sich die Politik untätig hinter der Komplexität des Systems
verstecken, die Verantwortung ablehnen und das Gesundheitswesen als Regelwerk zur Verausgabung von jährlich 200 Mrd. €
ohne aktiven Gestaltungsauftrag abtun.
Es stellt sich natürlich die Frage, ob es ein eigenständiges Politikfeld “Gesundheitspolitik” überhaupt gibt, neben den
klassischen Politikfeldern wie Außen-, Innen- und Finanz- bzw. Wirtschaftspolitik. Wenn man Gesundheitspolitik nicht einfach
über den Gegenstand “Gesundheitsversorgung und Prävention” definieren will, fällt zunächst die staatliche Gewährleistung für
die Gesundheitsversorgung der Bevölkerung ins Auge, die zumindestens im Bereich der Krankenhausversorgung (Art. 74 GG)
und für eine Mindestversorgung besteht (zur Diskussion s. Landau 2009). Die weitgehend staatlich organisierte gesetzliche
Krankenversicherung für den größten Teil der Bevölkerung über steuer-analoge Beiträge auf die Arbeitseinkommen und die
konkurrierende Zuständigkeit von Bund und Ländern z.B. für die Finanzierung oder die Investitionen im Krankenhausbereich
stellen eine weiteres Kennzeichen dar, ganz abgesehen von den Zuschüssen an die Gesetzlichen Krankenversicherungen aus
dem Bundeshaushalt. Auch erscheint die dichte Verknüpfung von wirtschaftlichen und sozialen Interessen und die
umfangreiche korporatistische Verfasstheit der Akteure von Bedeutung, die an der Steuerung und Umsetzung beteiligt sind -
wie im Begriff der “komplexen professionellen Systembürokratie” bereits antizipiert (zu diesem Arbeitsbegriff s. Kap. 3.4.).
Falls man also aufgrund dieser Merkmale von der Existenz einer eigenständigen Gesundheitspolitk ausgehen möchte, stellt
sich in zweiter Linie die Frage, ob sich das Politikmanagement im Gesundheitswesen, also die Prozesse und Inhalte, von
anderen Politikfeldern abgrenzen lassen. In der Darstellung der drei “Arenen” nach Korte (Korte 2012) umfassend
● Parteiendemokratie: öffentliche Verhandlungsprozesse, Mehrheitsentscheidungen, Repräsentation der Parteien und
Regierungsvertreter
● Verhandlungsdemokratie: Netzwerke, nicht-öffentliche Abstimmungen, Konsensbildung, Paketlösungen
● Mediendemokratie: Entscheidungen werden durch Stimmungen vorbereitet, Bürger treten in Kommunikation, Aufmerksam-
keit als Machtprämie
ist augenfällig, dass im Gesundheitswesen die mittlere
Arena der Verhandlungsdemokratie mit ihren
korporatistischen Strukturen und nichtöffentlichen
Konsensprozessen gegenüber der öffentlichen
Parteiendemokratie enorm an Bedeutung gewonnen hat.
In erster Linie sind hier die Verbände zu nennen,
teilweise mit staatlichen Aufgaben betraut (z.B.
Sicherstellung der ambulanten Versorgung) und in
korporatistisch zusammengesetzten Institutionen
eingebunden, die zentrale Steuerungsfunktionen direkt
unter und in Überlappung mit der gesetzgeberischen
Ebene wahrnehmen (z.B. Gemeinsamer
Bundesausschuss), gemeinhin zusammenfassend als
Selbstverwaltung bezeichnet. Die Aushandlungsprozesse, die
hier ablaufen, haben teilweise direkte Auswirkungen auf die Versorgung der Patienten und die Finanzierung im
Gesundheitswesen (z.B. Nutzenbewertung und Finanzierungsentscheidungen zu Medikamenten). Diese enge Verknüpfung
von Politk und Wirtschafts- bzw. zivilgesellschaftlicher Ebene prägt heute die Gesundheitspolitik ganz erheblich - ganz
abgesehen von der rasanten Bedeutungszunahme der Mediendemokratie im Zeitalter von Facebook und shitstorm.
Ausgedrückt in der klassischen politikwissenschaftlichen Terminologie polity - politics - policy (s. Tableau 32) werden
Themenstellung und Ergebnisse (policy) nicht nur durch die normative Ebene (polity) beeinflusst, sondern in starkem Maße
auch durch Interessen, Konflikte und informelle Konsensprozesse (politics) (Schubert und Bandelow 2008).
Folgt man diesem Verständnis einer Gesundheitspolitik, steht deren Existenz natürlich sogleich wieder in Frage, um so mehr
als nach dem in diesem Artikel verwendeten system- bzw. komplexitätstheoretischen Ansatz (Rahmenkonzept, s. Kap. 3.3)
weder Regeln erkennbar noch Interventionen mit vorhersehbarer Wirkung möglich wären. Hier ist die Diskussion jedoch nicht
stehengeblieben, so hat die Neokorporatismus-Debatte mit ihrer Betonung institutioneller Elemente, die zwischen politischer
Entscheidungsebene und Wirtschaft existieren oder aufgebaut werden, klargestellt, dass ein erweitertes Verständnis von
“Politik”, das sich nicht nur auf das hierarchische Top-Down-Verständnis beruft und die letztlich dann auch mit
Umsetzungsfragen betrauten Institutionen einbezieht, für die Steuerung eines solchen hochkomplexen Systems wie der
Gesundheitsversorgung durchaus funktional ist. Gemeinsam als
wichtig erkannte Probleme können unter Nutzung der jeweiligen
Kernkompetenzen sinnvoll angegangen werden, auch wenn
teilweise informelle Kommunikationskanäle genutzt werden
müssen (Lauth und Thiery 2012). Der aktuelle Begriff, unter dem
diese Diskussion derzeit geführt wird, die sog. Governance (Benz
und Dose 2010, Mayntz 2010, s. Tableau 32a), stellt ein
Politikverständnis dar, das davon Abstand nimmt, dass allein die
politische Hierarchie oder der Markt die Koordination übernimmt,
sondern dass das Zusammenwirken staatlicher, privater und
zivilgesellschaftlicher Strukturen für diese Koordination notwendig
ist (Lauth und Thiery 2012). Es ist durchaus bemerkenswert, wie offen und explizit die “politische Ebene” dieses Konzept für
das Gesundheitswesen in den Vordergrund stellt (Bundeszentrale für politische BIldung 2014).
Natürlich verbergen sich hinter diesen Konzepten erhebliche Gefahren, insbesondere bezüglich Intransparenz und politischer
Einflussnahme. Einerseits kann, wie bereits in Kap. 3.4 angedeutet, das Konzept der Governance sehr gut in das
Rahmenkonzept der komplexen professionellen Systembürokratie integriert werden, es repräsentiert sozusagen Komplexität
und Einbeziehung der “Experten” auf der Makroebene und betont die Kompetenz zur spontanen Selbstorganisation, die ja nicht
zu übersehen ist. Andererseits darf durch diese Konzepte die Funktion und Verantwortung der drei Gewalten, vor allem der
Legislative, nicht eingeschränkt werden, Interessenlagen müssen erkennbar bleiben, Konsensergebnisse transparent (Mayntz
2010). Am wichtigsten erscheint jedoch, dass sie für die politische Ebene nicht als Entschuldigung für Tatenlosigkeit,
Konzeptarmut und Verantwortungslosigkeit dienen darf.
Weiter: 6. Politische Verantwortung, 6.2. Handlungsfelder der Politik
Seite
Kapitel
Seite
Kapitel
6. Politische Verantwortung
6.1. Governance im Gesundheitssystem
© Prof. Dr. med. Matthias Schrappe, Venloer Str. 30, D-50672 Köln
Impressum und Datenschutz
Schrappe, M.: P4P: Aktuelle Einschätzung, konzeptioneller
Rahmen und Handlungsempfehlungen, Version 1.2.1.
Formen
Verfassung
Normen
Institutionen
Interessen
Konflikte
Kampf
Aufgaben
Ziele
Programme
Merkmale
Organisation
Verfahrensregeln
Ordnung, Normen
Macht
Konsens
Durchsetzung
Problemlösung
Aufgabenerfüllung
Wert-, Zielorientierung
Gestaltung
Dimension
Struktur
(Form)
Prozess
Inhalt und
Ergebnis
Bezeichnung
Polity
Politics
Policy
Tableau 32: Trilogie polity-politics-policy in der Darstellung n.
Schubert und Bandelow 2008
Tableau 32a: Begriff Governance in der Darstellung n.
Mayntz (2010): “Heute wird der Begriff Governance im
Kontext nationaler ebenso wie internationaler Politik benutzt,
um die Gesamtheit der in einer politischen Ordnung mit- und
nebeneinander bestehenden Formen der kollektiven
Regelung gesellschaftlicher Sachverhalte zu bezeichnen.
Dabei liegt der Akzent auf den verschiedenen Formen
zivilgesellschaftlicher Beteiligung an Prozessen politischer
Regelung und Problemlösung auf allen Ebenen des
politischen Systems, von der lokalen bis zur nationalen.”
M. Schrappe
P4P: Aktuelle Einschätzung,
konzeptioneller Rahmen und
Handlungsempfehlungen