Die hier genutzte Unterscheidung von vier Kontextdomänen, die die Umsetzung und Wirksamkeit eines Instrumentes wie P4P
beeinflussen, betont besonders die Rolle der professionellen Faktoren, die für Organisationen wie die des Gesundheitswesens
typisch sind (s. Abb. 6a). Derartige Organisationen bezeichnet man
als Expertenorganisationen (Spezialistenbürokratie) oder
professional bureaucracies (Kieser 2006, Lega und DePietro 2005,
Mintzberg 1979). Neben Krankenhäusern und anderen
Gesundheitseinrichtungen gehören Universitäten (s. Tableau 17),
Beratungsunternehmen, Schulen und soziale Dienste sowie
Assoziationen wie z.B. Rechtsanwaltskanzleien zu dieser Gruppe
von Organisationen.
In erster Linie zeichnen sie sich durch eine hochgradige
Autonomie von Experten (z.B. Universitätsprofessoren, Chefärzte)
aus, die den wertschaffenden “operativen Kern” der Organisation
bilden. Die Tätigkeiten der Experten sind sehr komplex, so dass sie
nicht von Externen oder internen Managern analysiert und
standardisiert werden können. Meist handelt es sich um den
Dienstleistungsbereich, die Leistungen, die die die Experten
erbringen, werden meist stark nachgefragt, sodass die Experten
über eine große berufliche Mobilität verfügen. Sie verfügen
weiterhin über die eigentlichen externen Kundenbeziehungen und gestalten die Produkt-Markt-Beziehungen in maßgeblicher
Form (z.B. im Krankenhaus gehen die Patienten zum Chefarzt oder zu Ärzten, die von ihm supervidiert werden, und nicht zum
Geschäftsführer, um sich behandeln zu lassen). In der Konsequenz können sie sich daher dem direkten Durchgriff der
(mittleren und oberen) Managementebene entziehen. Auch das Wachstum der Organisation vollzieht sich horizontal um die
Fachgebiete der Experten herum und/oder durch weitere Spezialisierung der Funktionen (z.B. Innere Medizin (ein Chefarzt)
wird zu Gastroenterologie und Kardiologie mit zwei Chefärzten).
Natürlich ist in einer solchen Struktur ein hohes Maß von Koordination notwendig. Diese Koordination innerhalb der
Expertenorganisation wird durch Standardisierung, die Internalisierung von Standards während einer langen Ausbildungs- und
Trainingsphase und eine inhaltliche (Mit)Kontrolle durch externe
Peers bzw. Fachgesellschaften gewährleistet (McCulloch 2006).
Dieser Aspekt betont die inhaltliche Nähe zum Begriff des
Professionalismus (zur Definition s. Freidson 2001, auch
Relman 2007, Tableau 20.1.). Das interne Management spielt
dagegen nur eine sehr geringe Rolle: “one salutes the man, not
the the stripes” (Mintzberg 1979). So stammen die relevanten
Arbeitszeugnisse eines ärztlichen Mitarbeiters immer vom
Chefarzt, also dem Abteilungsleiter, ein (seltenes) Zeugnis des
Geschäftsführers der Klinik hat für die Karriere eines Arztes kaum
Relevanz. Die professionellen Experten sehen sich in erster Linie
ihren fachlichen Kollegen gegenüber verantwortlich, die Karrieren werden primär über die Professionen geplant und ermöglicht.
Eine Voraussetzung für die Wirksamkeit dieser Standardisierung ist die funktionale “Diagnose” im Vorfeld der
Aufgabenerfüllung (”pigeonholing”, das Einsortieren in Schubladen (Mintzberg 1979)); es muss zuerst klar sein, worum es geht,
bevor dann die Organisation entsprechend eines standardisierten Vorgehens aktiv wird.
Die Experten haben eine umfangreiche horizontale Vernetzung auf der Arbeitsebene (Kollegialität), nehmen aber gleichzeitig
auch zahlreiche “vertikale” Leitungsaufgaben wahr (wie z.B. die
eigenständige Gestaltung der Kundenbeziehungen).
Leitungsgremien werden kollegial besetzt,
Managementfunktionen “mit den eigenen Leuten”. Das
nichtprofessionelle Management ist im Vergleich zu anderen
Organisationen unbedeutend und beschränkt sich zunächst auf
die Aufrechterhaltung der Supportfunktionen: die power of
expertise (die fachliche Qualifikation der Experten) ist stärker als
die power of office (die Managementkompetenz in einer
“normalen” bürokratischen Hierarchie) (Mintzberg 1979).
Allerdings gibt es in manchen Organisationen neben dem
professionellen System klassische bürokratische Linien-
Hierarchien anderer Berufsgruppen, die stark top-down mit klaren
Führungsstrukturen organisiert sind (im Krankenhaus z.B. die
Pflege, an der Universität nicht-wissenschaftliche Mitarbeiter
usw.). Die Koexistenz der partizipativen Expertenstruktur und der
klassischen Hierarchie kann zu Konflikten Anlass geben und
macht unter Umständen eine Abbildung der unterschiedlichen
Systeme auf der Leitungsebene notwendig (Chandler 1999).
Allerdings kann eine Expertenorganisation, entgegen dem ersten Eindruck, nicht vollständig auf Managementfunktionen
verzichten. Neben den Supportfunktionen (z.B. IT-Ausstattung, Bibliotheken, Beschaffungs- und Abrechnungsfragen) müssen
“nicht-professionelle” Manager z.B. im Konfliktfall schlichtend eingreifen, wenn die intraprofessionellen Mechanismen nicht
ausreichen. Außerdem werden sie für die Gestaltung der Außenbeziehungen der Organisation benötigt, soweit sie die
Gesamtinstitution betreffen (z.B. gegenüber politischen Gremien oder Geldgebern). Es wird dabei allerdings unbedingt erwartet,
dass sie die Autonomie der Experten schützen und in der Gesamtbilanz genügend Ressourcen zur Verfügung stellen.
Weiter: 3. Motivation ..., 3.2. Professional Bureaucracy (2)
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Kapitel
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3. Motivation, Organisation, System
3.2. Professional Bureaucracy: die Expertenorganisation
3.2.1. Das Konzept der Expertenorganisation
© Prof. Dr. med. Matthias Schrappe, Venloer Str. 30, D-50672 Köln
Impressum und Datenschutz
Schrappe, M.: P4P: Aktuelle Einschätzung, konzeptioneller
Rahmen und Handlungsempfehlungen, Version 1.2.1.
Tableau 17: Eine klassische Form der Expertenorganisation
ist die Universität: “Business of a university is not
university business.” (Chandler 1999). Das Management
einer Universität (university business) steht im Konflikt mit dem
Wesen oder der Aufgabe einer Universität (business of a
university), Forschung und Lehre zu betreiben, verbunden mit
der sog. akademischen Freiheit. Allerdings gibt es Umstände,
in denen ein aktives Management unabdingbar ist und es
Konflikte zwischen diesen beiden Logiken gibt, z.B. wenn die
finanzielle Basis der Universität bedroht ist, weil öffentliche
Gelder ausbleiben, oder wenn sich die hochschulpolitischen
Gegebenheiten ändern.
Abb. 6a: Der professionellen Domäne kommt besondere
Bedeutung zu: Expertenorganiation bzw. professional
bureauracy.
Tableau 18: Eigenschaften der Expertenorganisation (EO):
1. Die EO gehört zu den funktionalen Organisationen mit fachlich
begründeter Arbeitsteilung.
2. Große Autonomie der Experten
3. Experten verfügen über eigene Kundenbeziehung und
gestalten die Produkt-Markt-Beziehung.
4. Horizontales Wachstum um die Fachgebiete oder durch
weitere Spezialisierung
5. Koordination durch Standardisierung und Training
6. Diagnose (pigeonholing) ist die zentrale Leistung und löst
standardisierte Aufgabenbewältigung aus.
7. Unsicherheit wird in einem gewissen Maße toleriert.
8. Experten verfügen über horizontale Vernetzung und
gleichzeitig vertikale Leitungsaufgaben.
9. Das zentrale Management ist schwach ausgeprägt.
10. Die Aufgaben des Managements sind Außenbezug,
Konfliktlösung und Support.
11. Die wichtigste Schwäche der EO besteht (wie bei jeder
funktionalen Organisation) in der Innovationsresistenz besonders
bzgl. Prozess- und Strukturinnovation.
12. Weitere Schwächen sind die mangelnde Ausbildung eines
Qualitäts- und Risikomanagements sowie die potentielle
Überdehnung der Angebotsmacht (Verlust der Akzeptanz).
M. Schrappe
P4P: Aktuelle Einschätzung,
konzeptioneller Rahmen und
Handlungsempfehlungen