Heute hat die Betrachtung von Qualität und Sicherheit als Systemeigenschaften weite Verbreitung gefunden. So hat z.B. Marc
Chassin (2013) die wunderbare Metapher “It’s not a rocket science” geschaffen: eine Rakete ist sicherlich kompliziert, das
Gesundheitswesen aber komplex. Ein Problem wie die Händedesinfektion sei nicht mit “einfachen Methoden” anzugehen (s.a.
Erasmus 2010), für ausbleibende Verbesserungen gäbe es (a) sehr viele
ursächliche und beteiligte Faktoren, (b) jede Ursache bedürfe einer eigenen
Intervention, und (c) für jedes Krankenhaus bzw. Gesundheitseinrichtung gelten
andere Faktoren (Chassin 2013). Um die Bedeutung der Komplexität zu
unterlegen, zieht er den Vergleich mit der Nuklearindustrie heran: ”Imagine a
protocol that is as essential to the safety of a nuclear power plant as hand
hygiene is to preventing infections in hospitals— it is inconceivable that workers
in the power plant would exhibit a compliance rate of only 40 percent.” Die
Komplexität im Gesundheitswesen kann also noch nicht verstanden worden
sein, und der derzeitig sehr oft genutzte Rückgriff auf den Begriff der
Organisationskultur ist - bei aller Bedeutung - wichtig, aber nicht hinreichend, denn außer der Einsicht, dass in einem
Nuklearkraftwerk offensichtlich eine Organisationskultur etabliert werden konnte, die an eine Sicherheitskultur heranreicht,
erklärt er nicht, warum im Gesundheitswesen bzw. Krankenhaus eine entsprechende “Kultur” bislang nicht geschaffen wurde
(Chassin 2013).
Hinzu kommt, dass nicht nur der Kontext, sondern auch die Interventionen, die in Ansatz gebracht werden, komplexer Natur
sind. Die Situation wird also reichlich unübersichtlich: wir haben komplexe Interventionen (z.B. die Einführung von P4P, die ja
nicht als Einzelintervention analog einer Medikamenteneinnahme zu betrachten ist) in einer komplexen Umgebung (z.B. einem
Gesundheitssystem oder einem Krankenhaus) (Frolich et al. 2007). Diese “doppelte Komplexität” (zum Begriff vgl. Shojania
2013) bildet den Hintergrund für die notwendige und gewünschte wissenschaftliche Evaluation, von der “eindeutige” Ergebnisse
erwartet werden. Ohne hier in extenso auf die Aufgabenstellung und das methodische Konstrukt der Versorgungsforschung
eingehen zu können (vgl. hierzu Pfaff und Schrappe
2011), soll nur festgestellt werden, dass die
Auseinandersetzung um die Frage geht, inwieweit
in nicht-linearen, hochgradig interdependenten
Systemen Einzelfaktoren isoliert werden können,
die getrennt zu beobachten und im klassischen
Ansatz des randomisierten Versuchs zu
untersuchen sind. Besonders gilt dies für den Fall,
dass komplexe Interventionen in komplexen
Umgebungen (z.B. in Populationen) untersucht
werden (s. Abb. 7). In jedem Fall sind
Konzeptbildung, Pilotierung und spätere
Implementierung der Ergebnisse immanente
Bestandteile der Untersuchungen (Avorn und
Fisher 2010). Der Medical Research Council in
Großbritannien hat hierzu in zwei Memoranden
Stellung genommen (MRC 2000, 2008), sah sich
jedoch harscher Kritik durch Vertreter der
Komplexitätstheorie ausgesetzt, die auch diesen
Ansätzen ein falsches (zu mechanistisches)
Verständnis von Komplexität vorwarfen (z.B. Cohn
et al. 2013, zusammenfassende Darstellung der Kontroverse s. Mühlhauser et al. 2011). Die Auseinandersetzung hat Parallelen
zu derjenigen um die Bedeutung des randomisierten Versuchs bei Interventionen zur Patientensicherheit (Leape et al. 2002,
Shojania et al. 2002). Ganz grundsätzlicher Art ist die Auseinandersetzung um das richtige Verständnis der
Komplexitätstheorie, die sich um die o.g. Serie im BMJ (Plsek und Greenhalgh 2001, Wilson und Holt 2001, Plsek und Wilson
2001, Fraser und Greenhalgh 2001) ergab und in der den Autoren isbesondere eine Psychologisierung des Attraktoren-
Konzeptes vorgeworfen wird (Paley 2010, Greenhalgh et al. 2010, Paley 2011).
Weiter: 3. Motivation ..., 3.4. Konzeptioneller Rahmen
Seite
Kapitel
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Kapitel
3. Motivation, Organisation, System
3.3. “It’s not a rocket science!”
3.3.2. Doppelte Komplexität
© Prof. Dr. med. Matthias Schrappe, Venloer Str. 30, D-50672 Köln
Impressum und Datenschutz
Schrappe, M.: P4P: Aktuelle Einschätzung, konzeptioneller
Rahmen und Handlungsempfehlungen, Version 1.2.1.
Tableau 23: Vergleich
Kompliziert
Ferrari
Computer
Gallen-OP
Dienstanweisung
Kondensation
Kreuzworträtsel
Komplex
Urwald
Internet
Antibiotika-Resistenz
Einführung Leitlinie
Wetter
Schach
Abb. 7
M. Schrappe
P4P: Aktuelle Einschätzung,
konzeptioneller Rahmen und
Handlungsempfehlungen