Bei aller Standardisierung und pigeonholing der Klienten/Patienten wird Unsicherheit akzeptiert: die Lehrer stehen allein vor
der Klasse, die Ärzte machen allein Bereitschaftsdienst. Diese Unsicherheit kann ein Maß annehmen, das in normalen
Bürokratien nicht akzeptiert werden würde. Der Grad der Unsicherheit kann sich auch soweit erhöhen, dass die
Gesamtorganisation bedroht wird, und zwar z.B. dann, wenn einzelne oder mehrere Experten ihre kollegialen Kontrolle durch
die externen Professionen vernachlässigen und durch Qualitäts- bzw.
Sicherheitsmängel auffallen (failure of professionalism, s. Marshall et al. 2010, s.
Tableau 19). Eine externe Kontrolle von Qualität und Sicherheit ist sehr schwer
möglich, eine dazu notwendige Ausweitung des nicht-professionellen Managements
mit Ausbildung eines Qualitäts- und Risikomanagements wird von den Experten
primär abgelehnt und kommt nur auf ausserordentlich großen externen Druck
zustande.
Eine zweite Gefahr besteht darin, dass Experten die Organisation nur noch als
Plattform für den Verkauf ihrer Leistungen ansehen und ihre Angebotsmacht in
einem Maße mißbrauchen (”alle Patienten brauchen diese Therapie”), dass die Akzeptanz in der Umgebung in Gefahr gerät
(sog “means-ends-inversion”, also die Verkehrung von Mittel und Zweck, s. Mintzberg 1979). Gerade bei Klienten, oder - um
im Gesundheitsbereich zu bleiben - Patienten, die sich nicht wegen einer einzelnen Akuterkrankung, sondern einer
chronischen Mehrfacherkrankung an die Organisation wenden, ist eine solche Haltung dysfunktional, wenn nämlich weniger
der “Absatz” der Einzelleistung, sondern die Kooperation mehrerer Leistungen angezeigt ist.
Eine weitere Schwäche einer Expertenorganisation resultiert daraus, dass sie eine “Bürokratie” ist und bleibt, daher auch der
Begriff “Spezialistenbürokratie” (Kieser 2006). Sie hat zwar gegenüber die “Maschinenbürokratie” den Vorteil, dass sie sehr
hochspezialisierte Leistungen “auf Expertenniveau” anbieten kann und auch sehr innovationsnahe ist, sie basiert aber wie
diese auf einer funktionalen Arbeitsteilung. Diese Art der Arbeitsteilung führt “in ruhigen Zeiten” zu großen
Spezialisierungsvorteilen, ist aber immer dann überfordert, wenn sie sich in instabilen Umwelten bewähren muss, wenn also
unvorgesehene Ereignisse eintreten. Innovationen auf der Fachebene können von Expertenorganisationen immer erwartet
werden, Prozess- und Strukturinnovationen in Zeiten des Wandels sind jedoch nicht die Stärke dieser Organisationsform.
Der Konflikt im Gesundheitswesen zwischen den Experten, meist der Ärzteschaft, und dem Management ist ein schon
fast als klassisch zu beschreibendes Beispiel für die der Expertenbürokratie innewohnenden Widersprüche (Edwards 2003,
Edwards 2005), s. Tableau 20). Während Manager ihre Aufmerksamkeit eher auf Patienten-Populationen statt auf individuelle
Patienten richten, gestaltete Strukturen und lineare Problemlösungen vorziehen und bei primärer Organisationsloyalität
zumindest partiell den Austausch mit instabilen Umwelten als ihre Aufgabe ansehen, sind Ärzte dem individuellen Patienten
verpflichtet, achten auf ihre professionelle Autonomie und sind Außenbedingungen, die über das professionelle Umfeld
hinausgehen, skeptisch gegenüber eingestellt (s. Kasten). Ärzte müssen täglich
trade offs eingehen, sie sind verpflichtet, sich in unsicheren Umgebungen
zurechtzufinden (z.B. überfüllte Notfallambulanz) (Marshall et al. 2010). Der
Konflikt wird teilweise sehr scharf ausgetragen (Zitat: “In the case of bacon and
eggs, it has been said the chicken is involved but the pig is committed” - Ärzte
sind verpflichtet, Hilfe zu leisten (sind committed), das Management schafft die
adäquate Umgebung und ist involved (Mintzberg 1997)). Aus Managementsicht
ist die primäre Verbundenheit der Ärzte mit der Profession und erst sekundär
mit der Organisation das Hauptproblem und führt zu Vorwürfen, wenn der
Chefarzt am Ende der Sitzung sagt “zurück zur Arbeit”, was ja auch tatsächlich
eine Herabsetzung des Managements darstellt. Der Konflikt hat sich um die
Position des Ärztlichen Direktors (medical director) zugespitzt, der regelmäßig
von den Kollegen als zu Management-lastig angesehen wurde, was aber
letztendlich dazu geführt hat, dass die Ärzteschaft in den meisten Einrichtungen
des Gesundheitswesens keine Person mehr mit Letztverantwortung positionieren konnte und alle verantwortlichen Positionen
von Managern mit anderer Provenienz besetzt wurden (Mintzberg 1997).
Verstärkend kommt die Veränderungsresistenz der Expertenorganisation hinzu. Von außen an die Organisation
herangetragene Impulse wie solche durch veränderte Finanzierungsbedingungen oder politische Rahmenveränderungen
werden von den Experten primär als Autonomie-einschränkend erlebt und nicht als zu lösendes und evtl. lösbares Problem.
Obwohl zahlreiche Untersuchungen gezeigt haben, dass gerade professionelle Faktoren wie Vorbildfunktion, Einbeziehung der
Entscheider und Feedback-Mechanismen positive Prädiktoren für die Veränderung der Organisation und das Bewältigen von
Krisen darstellen (z.B. Greco und Eisenberg 1993, Bero et al. 1998, Grimshaw et al. 2004), ist die Chance auch von den
Professionen und den Expertenorganisationen nicht umfassend genutzt worden, kohärente Organisationskonzepte haben sich
daraus nicht entwickelt.
Letztendlich ist der Professionalismus (Definition s. Tableau 20.1.) in einer
Sackgasse verfangen und taugt insofern nicht als abschließendes Konzept für
ein modernes System. Gut lässt sich dies am Beispiel der Evidence-Based
Medicine zeigen (vergleiche hierzu Timmermanns und Mauck 2005), die ja sehr
auf die Wissenschaftlichkeit der Entscheidungsprozesse abhebt und sicher ein
wichtiges Element einer modernen Medizin darstellt. Die Gegenposition, die auf
der Erfahrungsgebundenheit des ärztlichen Berufes aufbaut (Handwerk/”Kunst”),
sieht allerdings durch EBM die professionelle Autonomie bedroht, ein Konflikt,
der bislang nicht gelöst wurde. Wenig wurde bislang beachtet, dass sich beide
Positionen in einem Punkt einig sind, nämlich der (mono)professionellen Sichtweise. Aus diesem Grund können sie sich
einerseits nicht verständigen und verhindern damit aber auf der anderen Seite gemeinsam multiprofessionelle und
multidimensionale Implementierungs- und Veränderungsstrategien (Timmermanns und Mauck 2005).
Weiter: 3. Motivation ..., 3.3. “It’s not a rocket science!”
Seite
Kapitel
Seite
Kapitel
3. Motivation, Organisation, System
3.2. Professional Bureaucracy: die Expertenorganisation
3.2.2. Einschränkungen und Schwächen
© Prof. Dr. med. Matthias Schrappe, Venloer Str. 30, D-50672 Köln
Impressum und Datenschutz
Schrappe, M.: P4P: Aktuelle Einschätzung, konzeptioneller
Rahmen und Handlungsempfehlungen, Version 1.2.1.
Tableau 20: Vergleich
Manager
Populationen
Prozesse
Gestaltete Strukturen
Lineare Problemlösung
als Standard
Hochgradie upwards-
Verantwortlichkeit
Primäre Loyalität:
Organisation
Außenreferenz als
Aufgabe (Marketing)
Politik als Ansprech-
partner normal
Ärzte
Individuelle Patienten
Ergebnisse
Autonomie
muddling through im
klinischen Alltag
Lockere Kontrolle
durch Profession
Primäre Loyalität:
Fach, Profession
Autonomie/Selbstbe-
stimmung bedrohlich
Politik “uneinsichtig”
bzgl. Fachlichkeit
Tableau 19: Schwächen der Experten-
organisation
(1) Failure of Professionalism:
professionelle Kontrolle funktioniert nicht
(2) Means-Ends-Inversion: Mißbrauch der
Angebotsmacht auf Expertenebene
(3) Innovationsresistenz als Bürokratie
Tableau 20.1: Definition Professionalismus
(s. Freidson 2001, Relmann 2007)
● Hochgradige Spezialisierung
● Spezifisches Wissen und Können
● Zertifizierung durch die Profession
● Exklusive Eigengerichtsbarkeit
● Geschützte Stellung auf dem Arbeitsmarkt
● Hohe Priorität von professionellen Werten
M. Schrappe
P4P: Aktuelle Einschätzung,
konzeptioneller Rahmen und
Handlungsempfehlungen