20.11.2014 “Qualität 2030 - die umfassende Strategie für das
Gesundheitswesen” - Fortsetzung 3 -
Kontext und Komplexität im Gesundheitswesen: umfassendes Rahmenkonzept
Angesichts der fortbestehenden Qualitäts- und Sicherheitsmängel kann man jedoch
nicht beim Thema Qualitätsverständnis und an Fragen der Systematisierung stehen
bleiben. Allgemein hat sich die Ansicht durchgesetzt, dass Qualität nicht (allein) eine
individuelle Aufgabe darstellt, sondern im organisatorischen Rahmen zu sehen ist
(Management-Perspektive), gerade die Patientensicherheits-„Bewegung“ hat hier
eine wichtige Rolle gespielt. Allerdings mehren sich
die Anzeichen dafür, dass auch die organisatorische Ebene nicht ausreicht, will man
wirkungsvoll zu einer Verbesserung der Situation kommen, sondern Qualität und Sicherheit
müssen als Problem des gesamten Gesundheitssystems angesehen werden – zu wichtig
sind Interaktionen mit Finanzierungsfragen oder dem professionellen Selbstverständnis der
beteiligten Berufsgruppen.
Die Erkenntnis, dass Qualität und Patientensicherheit System-Eigenschaften darstellen, hat
in erster Linie die Konsequenz, dass wir nicht durch mehr Anstrengungen der Einzelnen,
durch mehr Vorschriften, durch mehr Regulation zu mehr Qualität und Sicherheit kommen,
sondern dadurch, dass wir das System weiterentwickeln. Ausgehend vom „To Err Is Human“
Report im Jahr 1999 wurde daraufhin in den USA (ebenso wie in Großbritannien) ein
conceptual framework für die weitere Entwicklung des Gesundheitssystemes ausgearbeitet,
das maßgebliche Hinweise für die Bedeutung und die Weiterentwicklung der Qualität der
Versorgung beinhaltet („Crossing the Quality Chasm“, IOM 2001, und „The NHS Outcome
Framework 2013/2014“, NHS 2013)). Wir können in Deutschland viel aus diesen sehr
elaborierten und gut evaluierten Konzepten lernen, werden es aber nicht vermeiden können,
wegen unserer spezifischen Situation eigene Konzepte zu entwickeln. Die Empfehlungen in
diesem Gutachten beginnen daher auch mit dem Hinweis, dass wir ohne ein fortlaufend
aktualisiertes „Rahmenkonzept Qualitätsentwicklung“ für unser Gesundheitssystem keine Aussicht auf einen langfristigen
Erfolg unserer Verbesserungsbemühungen haben werden.
Die genannten Rahmenkonzepte aus den USA und aus Großbritannien stellen Qualität nicht nur als Eigenschaft des
Gesundheitssystemes dar, sondern interpretieren es aus systemtheoretischer Sicht – mit besonderer Betonung der
Komplexität des Gesundheitssystems. Im vorliegenden Gutachten wird diese komplexitätstheoretische Ausrichtung
aufgenommen und um das Konzept der Expertenorganisation (professional bureaucracy) ergänzt, das im Jahr 1979
erstmalig von Mintzberg vorgestellt worden war. Obwohl die Konzepte im
ersten Fall einen systemischen, im zweiten Fall einen organisatorischen
Fokus aufweisen, ergänzen sie sich in weiten Bereichen hervorragend,
insbesondere hinsichtlich der Tendenz zur Selbstorganisation, dem
hohen Maß der Autonomie ihrer Mitglieder und der Verdecktheit der
gleichwohl vorhandenen internen Regeln sowie den deutlichen
Übereinstimmungen im Bereich Innovation und Umgang mit
Unsicherheit. Beide Konzepte weisen einerseits eine hohe
Innovationsbereitschaft auf, sind andererseits in ihrer Reaktion auf die
Umwelt jedoch verhalten und meiden daraus resultierende
Innovationsansätze (“Innovations-Paradoxon”). Noch entscheidender
für den Bereich Qualität und PatientensIcherheit ist aber die
Beobachtung, dass beide Konzepte eine weitgehende Toleranz von
Unsicherheit aufweisen (“intrinsische Unsicherheit”). Die
Expertenorganisation erreicht Koordination über Standardisierung in der
Ausbildung und durch den Einsatz von peers, die Ärzte im Nachtdienst
sind jedoch allein und müssen “durchkommen”. Das komplexe System weist Unsicherheit, Spannung und Paradoxie sogar
als konstituierendes Element seiner Struktur aus. Die Toleranz gegenüber Unsicherheit ist einerseits gewiss ein Vorteil, denn
sie schützt vor voreiliger Festlegung und irreführender Linearität, andererseits weist sie durch die Innovationsresistenz
gegenüber Umweltreizen und somit auch externen Qualitätserwartungen schwerwiegende Defizite auf. Um in der
vorliegenden Arbeit die Synergien beider Konzepte kenntlich zu machen, wird der Arbeitsbegriff “komplexe professionelle
Systembürokratie” verwendet.
Ein Rahmenkonzept muss aber auch auf die Ebene der individuellen Verhaltensänderung Bezug nehmen. Feedback-
Verfahren wie P4P setzen einen externen (in diesem Fall finanziellen) Anreiz und sind den lerntheoretischen Konzepten
zuzurechnen. Folgt man dem Maslow’schen Konzept, setzen diese Verfahren an sehr basalen Bedürfnissen an, eine
Veränderung sozialer Rollen oder gar eine gesteigerte Wertschätzung wird nicht angesprochen. Zwar hat es in den letzten
Jahrzehnten mehrere Versuche gegeben, mit Modellen der sozialen Wahrnehmung, die über den individuellen Ansatz der
lerntheoretischen Konzept hinausgehen und z.B. Haltungen und Einstellungen thematisieren, die Veränderungsresistenz des
Gesundheitswesens zu überwinden. In diesem Zusammenhang wurde auch auf das
Konzept des Professionalismus gesetzt, das interne Motivation, Altruismus und
Autonomie in den Mittelpunkt stellt; es existieren hier Parallelen zur Diskussion z.B. um die
Einführung von Leitlinien oder der Evidence-based Medicine. Zusammenfassend muss
man jedoch festhalten, dass aus diesen Ansätzen keine Konzeption entwickelt werden
konnte, die tragfähige Lösungen für die virulenten Probleme bietet. Der Grund ist darin zu
suchen, dass diese Ansätze zu kurz greifen, eine zusätzliche Einbeziehung von Konzepten
des organisatorischen Wandels und des Kontext-bezogenen Lernens (soziales
Marketing) erscheint dringend notwendig und wird in dem hier entworfenen
Rahmenkonzept vorgeschlagen.
Auf der dritten Ebene muss ein tragfähiges Rahmenkonzept in der Lage sein, auch
ökonomische Anreize mit organisationstheoretischen Konzepten und Konzepten der Verhaltensänderung
zusammenzuführen. Als Beispiel sei hier die principal agent-Theorie genannt, die bei P4P eine große Rolle spielt, und auch
aus dem Gebiet der Verhaltensökonomie (behavioural economics) lassen sich wertvolle Aspekte identifizieren (z.B.
Risikoaversion). Zu den ökonomischen Faktoren gehören selbstverständlich auch das Zusammenspiel unterschiedlicher
Vergütungssysteme; wie weiter unten noch zu diskutieren sein wird, ist z.B. P4P ja nie als komplettes Vergütungssystem
aller denkbaren Leistungen zu verstehen, sondern wird immer in ein bestehendes Vergütungssystem „eingebettet“ sein, was
zu erheblichen Interaktionen führt, wenn die Anreize in unterschiedliche Richtungen gehen.
Letztlich muss – auf der vierten Ebene – die politische Umsetzung und die spezifischen Aufgaben der politischen Ebene
diskutiert und in das Konzept aufgenommen werden. Eine detailierte Regelung „von oben“ ist heute nicht mehr denkbar;
moderne Konzepte wie das der governance sehen explizit die Einbeziehung zivilgesellschaftlicher und institutioneller
Elemente (z.B. informelle oder privat organisierte Netzwerke) vor, wenngleich die „Politik“ sich der Verantwortung nicht
entziehen kann: sie muss Rahmenbedingungen setzen, die Richtung vorgeben (direction pointing) und frühzeitig
unerwünschte Nebenerscheinungen identifizieren und diese eingrenzen.
Ein derartiges Rahmenkonzept, das als Hintergrund für die Entwicklung und Evaluation einer weiterführenden
Qualitätsstrategie dient, sollte also folgende sechs Elemente berücksichtigen (Kap. 8.):
● Organisationstheorie: professional bureaucracy
● Systemtheorie: Komplexe Systeme
● Verhaltensänderung
● Ökonomische Grundannahmen: Principal Agent Theorie und Verhaltensökonomie
● Kombination mit anderen Vergütungssystemen
● Politikwissenschaftliche Annahmen
Weitere Aspekte von “Qualität 2030”:
Das Gutachten steht hier zum Download bereit (weiterhin die Presseerklärung, Beilage Tagesspiegel am Vortag, Link zur
entsprechenden MWV-Webseite).
Prof. Dr. med. Matthias Schrappe
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