Prof. Dr. med. Matthias Schrappe
9. Nationaler Qualitätskongress Gesundheit, 03.-04.12.2015 in Berlin
Den Veranstaltern muss man wirklich ein fast schon seherisches Zeitgefühl für die Terminierung des Nationalen
Qualitätskongresses Gesundheit zuschreiben - zwischen der endgütligen Verabschiedung des Krankenhausstrukturgesetzes
(KHSG) im Bundesrat und der Kongresseröffnung durch den Kongresspräsidenten Ulf Fink lag gerade mal ein Wochenende. Und
so hatte die Parlamentarische Staatssekretärin im BMG, Annette Widmann-Mauz, alle Aktuallität auf ihrer Seite, als sie in ihrem
Eröffnungsreferat die “Qualitätsinititative der Bundesregierung” vorstellte.
Die Existenz einer solchen “Qualitätsinitiative” kann man nicht abstreiten, wie man auch immer zu einzelnen Teilen und zur
Kohärenz des Ganzen stehen mag. Es ist nicht nur das in weiten Teilen als “Qualitätsgesetz” zu interpretierende “Gesetz zur
Reform der Strukturen der Krankenhausversorgung” (KHSG, ausführliche Darstellung hier), sondern der Kontext mit dem “GKV-
Finanzstruktur- und Qualitäts-Weiterentwicklungsgesetz” (FQWG) vom Juli 2014 und dem GKV-Versorgungstärkungsgesetz (GKV-
VSG) vom 16.7.15, der diesen Eindruck nahelegt. Wahrscheinlich war es ein offenes window of opportunity, Große Koalition auf
Bundes- plus Schwarz-Rot-Grün auf Länderebene, das diese Entwicklung ermöglichte, aber kein Fenster kann weit genug offen
stehen, als dass etwas hindurchweht, was nicht dem Zug der Zeit entspricht - und dieser Zug ist definitiv eine “steife Brise”:
Qualitätsverbesserung auf Systemebene steht ganz oben auf der gesundheitspolitischen Agenda.
Diese Tatsache hat aber für alle Beteiligten z.T. unbequeme Konsequenzen, Positionen müssen überdacht, Sichtweisen müssen
geändert werden. Dass das nicht jedermann’s Sache ist, war auf dem 9. Nationalen Qualitätskongress in Berlin deutlich zu
verspüren, in Teilen erinnerte die Atmosphäre an die Zeit der DRG-Einführung: eigentlich ist man sich sicher, das Ganze kommt
sicherlich gar nicht, und wenn doch, dann wird es einen schon nicht direkt betreffen (wer erinnert sich noch den schönen Begriff
der ”Optionsphase”?). Dabei sind die Zeiten, in denen die Qualitätssicherung auf Diagnose- und Fachebene und das Qualitäts-
bzw. Risikomanagement auf institutioneller Ebene im Mittelpunkt des Qualitätsverständnisses standen, längst Vergangenheit.
Natürlich sind Qualitätssicherung und QM/RM weiterhin von größter Wichtigkeit, werden derzeit aber ergänzt durch
Systeminterventionen, die Qualität als treibendes und steuerndes Element auf der Ebene des gesamten Gesundheitssytems
begreifen. Mit anderen Worten: wenn man es großen Verdienst der institutionellen Qualtiätsmanagement- (und
Patientensicherheits-)”Bewegung” in den vergangenen Jahrzehnten bezeichnen kann, Qualität und Sicherheit nicht nur als
individuelle, sondern als organisatorische und somit Management-Leistung zu verstehen, dann ist die Qualitätsfrage heute auf der
Ebene des Gesundheitssystems angekommen, Instrumente der “Qualitätsverbesserung auf Systemebene” wie Pay for
Performance und Qualitäts-orientierte Krankenhausplanung stehen nun im Vordergrund.
Genau genommen handelt es sich dabei nicht um einzelne Instrumente, sondern um einen ganzen “Instrumentenkoffer”. Ohne
Anspruch auf Vollständigkeit kann man folgende Schwerpunkte ausmachen, wobei die Nennung nicht implizieren soll, dass der
Einsatz des Instrumentes allein und vor allem in Kombination mit den anderen Interventionen in jedem Fall sinnvoll ist:
● Qualität als Ziel der (Krankenhaus-)Versorgung
- Ergänzung des Ziels der Bedarfsgerechtigkeit der Krankenhausversorgung durch das Ziel der “Patienten-
gerechten Versorgung” nach §1 Abs. 1 KHG (s. auch Begründung, vgl. auch §70 SGB V);
● Qualität als Parameter einer wettbewerblichen Organisation des Gesundheitswesens,
- Qualitätsbericht nach §136b Abs. 6 SGB V (die Angaben beziehen sich auf die Neuregelung der “Qualitäts-
paragraphen des SGB V durch das KHSG) und
- Qualitäts-orientierte Vergütung n.§136b Abs. 9 (Pay for Performance, ausführliche Darstellung s. in “Qualität 2030”
und hier);
● Qualität als Parameter der Versorgungsplanung
- Qualitäts-orientierte Krankenhausplanung nach §6 Abs. 1a KHG und §136c SGB V und
- durch das “Tandem” Mindestmengen (§136b Abs. 3-5) und Zugangsindikatoren im Rahmen der Sicher-
stellungszuschläge (§17b KHG);
● Qualität als Element der Selektivverträge
- Qualitätsverträge für vier ausgewählte Diagnosen nach §110a SGB V;
● Stärkung der Patientenorientierung und Entwicklung von Patient-Reported Outcome Measures (PROM’s)
- Ergänzung des Ziels der Bedarfsgerechtigkeit der Krankenhausversorgung durch das Ziel der “Patienten-
gerechten Versorgung” nach §1 Abs. 1 KHG (s. auch Begründung) (s.o.),
- Forderung nach gesonderter Darstellung der “patientenrelevanten Informationen” und deren Spezifizierung im
Qualitätsbericht nach §136b Abs. 6, s. dort vor allem Satz 5, und
- Entwicklung von “Modulen für ergänzende Patientenbefragungen” als Aufgabengebiet des IQTiG n. §137a Abs. 3;
● Qualität als Element zahlreicher Detailregelungen, z.B.
- Krankenhaushygiene insbes. nach §136a Abs. 1 SGB V und
- Patientensicherheit insbes. nach §136a Abs. 3 SGB V;
● Maßnahmen zur Verbesserung der Indikationsqualität bzw. zur Vermeidung von Überversorgung, u.a.
- Korrekturen des DRG-Kataloges (§17b Abs. 1 KHG),
- Fixkostendegressionsabschlag nach §10 Abs. 13 KHEntgG und
- Neuformulierung der Anforderungen an Zielvereinbarungen in Chefarztverträgen n. §135a SGB V;
● Entwicklung von Instrumenten zur Messung und zum Monitoring von Qualität (Qualitätsindikatoren)
- Umfangreiche Beauftragung des GBA bzw. des IQTiG nach §137a SGB V;
● Möglichkeit der Evaluation der unterschiedlichen Qualitäts-relevanten Interventionen
- Innovationsfonds nach §92a,b SGB V;
● Steigerung der Verantwortlichkeit (accountability)
- Stärkung von Durchsetzung und Kontrolle von Qualitätsanforderungen nach §137 SGB V [neu] durch den MDK und
- Berichtspflicht des GBA zum Thema Qualität gegenüber der Legislative nach §136d SGB V.
Alle Achtung, könnte man sagen. Die Anregung, die ja auch in “Qualität 2030” geäußert wurde, beim Thema Qualitätsverbesserung
von Einzelmaßnahmen zu einem breit angelegten Zugang zu kommen, also eine Art “gesundheitspolitischer bundle-
intervention” zu wagen, scheint Gehör gefunden zu haben. Kein Wunder also, dass es auf dem Kongress nicht langweilig wurde,
und gleichzeitig muss man festhalten: die Diskussion hat gerade erst begonnen. Kann man ein erstes Resümee wagen? Einiges
klingt nach Allgemeinplätzen, wird aber vielleicht über den Erfolg der “Qualitätsinitiative” entscheiden:
● Handwerkliche Fehler vermeiden: Das beste Beispiel für eine solche Fehlentwicklung, die nach den internationalen
Erfahrungen leider zur Wirkungslosigkeit führen wird, ist die Verwendung der gleichen Indikatoren für die Qualitäts-orientierte
Versorgung (P4P), die auch schon seit langer Zeit für die Qualitätsberichte verwendet wurden (sog. dual use). Beide Instrumente
entfalten keine additive Wirkung, und die Indikatoren unterliegen einem Abnutzungseffekt (ceiling). Es ist erstaunlich, mit welcher
Zurückhaltung die beteiligten Institutionen auf solche Hinweise reagieren - sofort wird die Machbarkeitskarte gezogen, verbunden
mit dem freundlichen Hinweis, dass die Selbstverwaltung (”der GBA”) sowieso die Fristen, die der Gesetzgeber
zugegebenermaßen sehr ehrgeizig gesetzt hat, nicht halten werde. Dies führt zu einem weiteren Punkt:
● Nicht nach Datenverfügbarkeit, sondern Ziel-orientiert entscheiden: Das wichtigste “Grundgesetz” jeder
Qualitätsverbesserung besteht darin, sich zunächst das Problem, die “Anforderungen” zu überlegen, worauf eine Lösung und somit
ein Monitoring der Qualität gerichtet ist. In der Folge (aber erst dann) muss man sich dann Gedanken darüber machen, wie man zu
belastbaren Daten kommt. Dass die vorzeitige Festlegung auf bestimmte Datentypen wie z.B. Abrechnungsdaten dazu führt, dass
einseitig Prozeduren (Eingriffe) beschrieben werden, die naturgemäß Einrichtungs- und Sektoren-bezogen anfallen und damit nicht
nur die Unarten des Systems, sondern auch die Patienten-seitigen Aspekte (Koordination, PROM’s etc.) unter den Tisch fallen, ist
vielfach diskutiert worden (vgl. “Qualität 2030”); nebenbei führt dies auch dazu, dass stabile und belastbare klinisch-
epidemiologische Daten, wie sie international z.B. auf dem Gebiet der Infektionsepidemiologie (nosokomiale Infektionen)
Verwendung finden, ungenutzt bleiben. Also: Kein Weiter - so”! Ganz besonders wichtig ist die Zielorientierung im Bereich des
ehrgeizigen Projektes der Qualitäts-orientierten Krankenhausplanung nach §6 Abs. 1a KHG. Man sollte sich gut überlegen, ob es
wirklich die Krankenhaus- und nicht vielmehr die Versorgungsplanung ist, die man fortentwickeln möchte.
● Die Avantgarde-Ansätze nutzen: Das Vorgesagte darf natürlich nicht dazu führen, dass man die bestehenden, die
vorherrschende Logik transzendierenden Ansätze nicht beachtet. In erster Linie sind hier die “transsektoralen” Routinedaten-
basierten Projekte des WIDO-Institutes zu nennen (aktuell: Tonsillektomie), Herr Dr. Litsch, der neue Vorsitzende des AOK-
Budnesverbands wies in der Eingangs-Podiumsdiskussion darauf hin. Und natürlich muss es den Bundesländern erlaubt sein,
endlich (!) gegen Häuser vorzugehen, die selbst in der heutigen Qualitäts”sicherung” schlechte Ergebnisse vorweisen - so wie es
Dr. Gruhl, Behörde für Gesundheit und Verbraucherschutz der Hansestadt Hamburg, forderte. Und ganz besonders gilt dies für
Ansätze zur Qualitätsverbesserung, die das Ohr am Puls der Zeit haben, so in den Arztnetzen und Integrationskonzepten. Zu
nennen ist hier z.B. das QuATRo-Projekt, in dem die AOK mit Arztnetzen Ansätze zur Qualitäts-orientierten Vergütung pilotiert, und
über das Frau Dr. Milde, Berlin, referierte. Instrumente zur Qualitätsverbesserung auf Systemebene sind am besten dort
einzusetzen, wo sie über ihre “Strukturdimension” die Weiterentwicklung des Gesundheitssystems unterstützen (s. sog.
dreidimensionaler Orientierungsrahmen in Qualität 2030).
● Nicht gerade mit dem Aller-Schwierigsten beginnen: Wie bei jeder Qualitätsarbeit gilt auch im Rahmen von Interventionen
auf Systemebene, dass der Erfolg des zentralen Projektes nicht gefährdet werden darf. Aus diesem Grund ist die -
nachvollziehbare, denn Ergebnisse führen selbstverständlich - Festlegung auf Outcome-Indikatoren problematisch. Alle Länder, die
z.B. mit der Qualitäts-orientierten Vergütung arbeiten, setzen fast ausschließlich Prozessindikatoren ein (USA, Frankreich, UK,
Dänemark ...), weil: (a) diese in der Verantwortung klar zurückzuverfolgen sind, (b) diese einen präventiven Charakter aufweisen
(keine bad apples), (c) sie nicht risiko-adjustiert werden müssen, (d) es daher in den Risikoadjustierungsmodellen keine Probleme
mit kleinen Gruppengrößen und (e) daher keine systematische Benachteiligung kleiner Anbieter gibt (größere Streuung, sog.
Fallzahl-Prävalenz-Problem), von (f) den größeren gaming-Potentialen bei Risikoadjustierung über Beeinflussung der
nebendiagnosen ganz zu schweigen (ausführliche Darstellung hier). Leider ist der Begriff Outcome-Indikators in Deutschland auch
nicht exakt vom Begriff des Ergebnisindikators abgegrenzt, Im Grunde sind darin Prozessindikatoren (z.B. Komplikationen)
enthalten, was die Diskussion weiter verkompliziert, denn diese sind durchaus geeignet und international im Einsatz.
● Internationale Erfahrungen nutzen: Der Autor dieser Zeilen wies in seinem Übersichtsreferat zu P4P (mal wieder) darauf hin
(Folien). In Deutschland hat sich der Eindruck breitgemacht, P4P sei wirkungslos (s. z.B. BQS-Review 2012, der leider erhebliche
methodische Mängel aufweist). In allen anderen Ländern mit aktiven Qualitätsverbesserungs-Strategien wird P4P seit Jahren breit
eingesetzt, in den USA wird in diesem 5,75% des Medicare-Krankenhausbudgets in allen Krankenhäusern mittels dreier P4P-
Programme umgesetzt, Pflegeeinrichtungen und der ambulante Bereich sind ebenfalls einbezogen. Natürlich ist P4P nur eine
Maßnahme im Konzert einer großen komplexen Systemintervention, der isolierte Wirkungsnachweis ist gelegentlich schwierig
(wenngleich die Studien durchaus einen positiven Effekt zeigen (Übersicht)), aber wer würde den Sicherheitsgurt im Autoverkehr
wieder abschaffen, weil man seinen Effekt nicht vom Effekt der elektronischen Lenksysteme abgrenzen kann?
Vielleicht noch eine Schlußbemerkung. In der Vergangenheit haben die (fachlich guten!) Tagungen der Qualitäts- und
Patientensicherheitsgesellschaften (man nehme mir hier den Plural nicht übel) häufig darunter gelitten, dass die politische und die
sog. Entscheiderebene nicht oder kaum vertreten war. Das zu ändern, das hat der Nationale Qualitätskongress Gesundheit
wirklich geschafft, das kann man schon heute, 1 Jahr vor seinem 10. Geburtstag, sagen: Politik und Entscheider waren da, aber
auch die Experten des Alltags aus der Qualitäts- und Safetyszene waren vertreten. Man kann auch gar nicht daran vorbeisehen -
ein solcher Kongress ist und bleibt für das deutsche Gesundheitswesen eine Notwendigkeit. Nicht nur die Entscheiderebene
braucht ihr Forum der Auseinandersetzung, sondern auch die QM- und Risikomanager vor Ort brauchen die Auseinandersetzung
auf und mit der politischen Ebene. Waren sie bislang die Experten für den institutionellen Einsatz von Qualitäts- und
Risikomanagement, die Botschafter von neuen Methoden zur Steigerung von Qualität und Patientensicherheit in den
Einrichtungen, dann kommt auf sie heute noch eine neue, wichtige Aufgabe zu: sie müssen in der Lage sein, die Entwicklung und
Instrumente auf der Ebene des Gesundheitssystems, also z.B. Qualitätsbericht, Pay for Performance, Qualitäts-orientierte
Krankenhausplanung zu verstehen, zu interpretieren und in den institutionellen Kontext zu vermitteln. Tun oder können sie es
nicht, dann wird ihre institutionelle Bedeutung stark zurückgehen oder gar - verschwinden. Also, in diesem Sinne: man kann nur
hoffen, dass es den Nationalen Qualitätskongress als Forum solcher intensiver Diskussionen noch viele Jahre gibt.
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