Prof. Dr. med. Matthias Schrappe
11.12.2014 Versorgungsstärkungsgesetz: Selektivverträge stehen im Mittelpunkt
Es weihnachtet sehr - wie jedes Jahr studiert man in dieser Zeit die neue Gesundheitsgesetzgebung, entsprechende Entwürfe
oder ersatzweise Koalitionsverträge. Ist dieses Jahr etwas anders als sonst? Kommt
Weihnachten etwa schneller? Vielleicht hat man den Eindruck, durch eine Kompression von
Ereignissen soll die Zeit ja schneller vergehen: GKV-FQWG, GKV-VSG, Eckpunktepapier zur
Krankenhausreform. Qualitätsinstitute, Besondere Versorgung, Innovationsfonds und
Strukturfonds, Qualitäts-orientierte Vergütung und Qualitätsverträge, Versorgungsforschung -
welch Furiosum. Im nächsten Sommer, wenn die Tage wieder länger sind, soll sich das
Mosaik schlussendlich zusammensetzen: die Krankenhausreform, die Integration unseres
Gesundheitssystems, die Evaluation von Strukturreformen. Und: Qualität und Sicherheit -
immer dabei.
Wenn das mal gutgeht. In jedem Fall kommt dem Versorgungstärkungsgesetz (GKV-VSG)
eine zentrale Rolle zu, im Konzert mit Krankenhausreform (s. Eckpunktepapier) und
Qualitäts-orientierter Vergütung. Nur - was ist die Kernbotschaft? Worin besteht die zentrale Entwicklung? Da kann es nur
eine Antwort geben - zentral ist die weitgehende Einführung der Selektivverträge durch die Neufassung des §140a, wenngleich
diese in der Wahrnehmung der Öffentlichkeit kaum ein Rolle zu spielen scheinen, denn hier schaut man ausschließlich auf den
Innovationsfonds, das Qualitätsinstitut, die Termingarantie und vielleicht noch das Zweitmeinungsverfahren.
Zunächst zu den Fakten. Die Neufassung des §140a erlaubt es den Krankenkassen, Selektivverträge mit allen zugelassenen
Leistungserbringern abzuschließen, einschließlich Praxiskliniken, Pflegeeinrichtungen, pharmazeutischen Unternehmen,
Medizinprodukteherstellern und Kassenärztlichen Vereinigungen. Die Integrationsversorgung nach dem alten §140a (sektor-
und/oder fachübergreifende Versorgung) und die Besondere Ambulante Versorgung nach §73c gehen in den neuen
Regelungen auf. “Die bislang bestehenden Regelungen zu den Möglichkeiten der Krankenkassen, Einzelverträge mit
Leistungserbringern abzuschließen, sind wenig systematisch. Auf Grund dessen ist eine Neustrukturierung nötig” konstatiert
die Begründung lakonisch.
Nun ist an dieser Schwerpunktsetzung wenig auszusetzen, allerdings darf man nicht übersehen, dass diese Bestimmungen zu
epochalen Veränderungen unserer Versorgungsstrukturen führen werden - bescheidener kann man es leider nicht
ausdrücken. Nachdem im ambulanten Bereich die Abspaltung des hausärztlichen Bereichs im vollen Gange ist (und diese
Abspaltung im VSG-Entwurf durch die Regelungen zur Stimmenverteilung in den Vertreterversammlungen noch vertieft wird
(§73 Abs. 3a in Verbindung mit §87b Abs. 1 Satz 1)) und die Maximalversorgung z.B. durch die Stärkung der Polikliniken
(§117) weiter gefördert wird, geht man nun den sekundärfachärztlichen Bereich an, der bekanntermaßen aus den
entsprechenden konkurrierenden ambulanten und stationären Teilsektoren zusammengesetzt ist. Das Endergebnis dieser
Entwicklung wird in der Integration der sekundärfachärztlichen Versorgung über die bisherige ambulant-stationäre
Sektorgrenze hinweg bestehen. In seinem Umfang wird dieser Bereich, davon kann man sicher ausgehen, nicht mehr der
Summe der bisherigen Bestandteile des ambulanten und stationären Sektors entsprechen, sondern es wird zu einer deutlichen
Kompression des (entstehenden) sekundärfachärztlichen Sektors kommen (s. Abb.). Der Sachverständigenrat hat bereits in
seinem Gutachten 2007 diese Entwicklung antizipiert, damals insbesondere hinsichtlich der Frage der Finanzierung der
notwendigen neuen Formen der primärärztlichen Grundversorgung.
Aus dieser Sichtweise wird die Struktur und der Gedanke des Versorgungsstärkungsgesetzes klar erkennbar, eine ganze
Reihe von Einzelregelungen können auf diesem Hintergrund interpretiert werden. Es werden z.B. arztgruppengleiche MVZ
ermöglicht (§95), Kommunen können MVZ gründen, und es wird in den KVen und der KBV ein Fachausschuss für angestellte
Ärzte in der ambulanten Versorgung vorgeschrieben (§79c): der ambulante Bereich wird sich organisatorisch zu höhergradigen
Managementstrukturen entwickeln, um die Hauptlast der sekundärfachärztlichen Versorgung tragen zu können. Auch die
Regelungen zu den sog. Qualitätsverträgen, die nach den Vorstellungen des Eckpunktepapiers zur Krankenhausreform für
vier Diagnosen geschlossen werden sollen (s.a. Koalitionsvertrag), erscheinen in diesem Licht als das was sie sind - sie stellen
im Kern Selektivverträge dar. Es wird in Zukunft eine regionale Versorgungsplanung notwendig werden, daher sind die
zunächst eher randständig erscheinenden Bestimmungen zur Erreichbarkeit (a) im Eckpunktepapier (unter 1.8.
Sicherstellungszuschläge/Erreichbarkeitsorientierte Versorgungsplanung) und (b) m VSG-Entwurf (zur sog. Termingarantie
unter §75 Abs. 1a “Die Entfernung zwischen Wohnort des Versicherten und dem vermittelten Facharzt muss zumutbar sein” mit
der Verpflichtung, im Bundesmantelvertrag Arztgruppen-bezogene Differenzierungen für die Zumutbarkeit zu vereinbaren) von
großer Bedeutung. Diese Regelungen sind zumindestens als erste zarte Versuche zu werten, dem Qualitätsindikator
“Zugang zur Versorgung” - unverzichtbar in einer zukünftigen Struktur des deutschen Gesundheitswesens - Geltung zu
verschaffen (s. Krankenhaus- und Versorgungsplanung in “Qualität 2030”).
In gleicher Weise kommen in den Bestimmungen zum Innovationsfonds (§92a, §92b) die „Neuen Versorgungsformen“ zu
Ehren, die Begründung führt aus: „Die Vorhaben können insbesondere in der Form von Selektivverträgen der Krankenkassen
durchgeführt werden.“ Auch die für die Versorgungsforschung zur Verfügung stehenden Mittel können zur wissenschaftlichen
Begleitung und Auswertung (Evaluation) von Verträgen zur besonderen Versorgung nach § 140a verwendet werden. Wir haben
also in Zukunft zwei “Entwicklungs-Fonds” vor uns, die das Gesundhietssysstem an zwei entscheidenden Positionen
weiterzuentwickeln helfen:
● den Strukturfonds (s. Eckpunktepapier zur Krankenhausreform) zur Überführung der Krankenhausstrukturen in regional
strukturierte Versorgungsformen und
● den Innovationsfonds mit dem Schwerpunkt der Evaluation der Selektiv- und Qualitätsverträge.
Aktuell wird sogar noch diskutiert, den erheblichen Bedenken aus der Wissenschaft hinsichtlich der Verwendung der Mittel
des Innovationsfonds Rechnung zu tragen, die sich insbesondere auf die Entwicklung von sinnvollen Fragestellungen und die
Evaluationsmethodik richten. Dem BMBF wird im Innovationsausschuss eine Stimme eingeräumt, und es wird dem
Innovationsfond ein Expertenbeirat zur Seite gestellt, der Empfehlungen zur Förderbekanntmachung sowie zu den
Förderentscheidungen abgeben soll und somit eine Art externe Referenz darstellt.
Grundsätzlich muss man aber alle diese Aspekte unter dem Blickwinkel des gewaltigen Hauptanliegens des jetzigen
Gesetzesvorhabens interpretieren, der - da kann gar kein Zweifel bestehen - einige dringend notwendige Schritte in der
Weiterentwicklung des deutschen Gesundheitssystems einläutet. Es ist damit zu rechnen, dass alle auftretenden Aspekte und
Änderungswünsche im laufenden Prozess, der im Laufe des Jahres 2015 abgeschlossen sein wird, diesem Hauptanliegen
untergeordnet werden.
Wollen wir zumindest hoffen, dass diese Annahme zutrifft. Denn für die Belange von Qualität und Sicherheit ist dies eine
positive Entwicklung - die Qualitätsfrage kann eine hervorragende Rolle in der Weiterentwicklung des Gesundheitssystems
spielen, aber es muss auch eine Weiterentwicklungsperspektive vorliegen, sonst besteht die Gefahr, dass die
Qualitätsthematik “verbrannt” wird. Bleiben wir optimistisch.
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* M. Schrappe: “Qualität 2030 - die umfassende Strategie für das Gesundheitswesen”. Vortrag auf dem 8. Nationalen Qualitätskongress, Berlin,
27.11.2014, Download der Folien
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