Prof. Dr. med. Matthias Schrappe
29.11.2013: Gesundheit! Der neue Koalitionsvertrag III
Heute geht der 7. Nationale Qualitätskongress zu Ende. Gute Sitzungen z.B. zu Safety und Infection Control,
Spitzenbesetzung. Zeitgleich findet das Münchener Qualitätsforum Nr. 31 statt, die gute alte Veranstaltung: Qualität wird zu
einem der zentralen Begriffe im Koalitionsvertrag, die Qualitätsszene zerlegt sich zwischen Berlin und München. Wenn das
mal gut geht. Gestern abend erhielt Ulla Schmidt den Deutschen Qualitätspreis, Franz Knieps hielt die Laudatio. Launiger
Geschichtsunterricht, selbst der Laudator kam mit den Gesetzesdaten durcheinander. Wann war nochmal das
Gesundeitsmodernisierungsgesetz? Aber Spaß beiseite, der Preis geht in Ordnung, Ulla Schmidt hat ihn verdient, ohne sie
hätte es z.B. mit dem Aktionsbündnis Patientensicherheit und der Aktion Saubere Hände nicht so geklappt. Aber wer
schützt Qualität jetzt in den kommenden Monaten vor Missbrauch und großem Schaden?
Also nochmal zum Koalitionsvertrag. Um vorne anzufangen, die Versorgungsforschung steht weiter ganz oben auf der
Prio-Liste. “Die Versorgungsforschung werden wir stärken, um vor allem die Alltagsversorgung von Patienten zu
verbessern.” Hm? Das muss man zweimal lesen, bevor man es merkt, denn - so begrüßenswert die Stärkung der
Versorgungsforschung ist - knapp vorbei ist auch daneben, die “Alltagsversorgung” ist nun mal nicht der Kern der
Versorgungsforschung, sondern der Nutzen von Methoden “unter Alltagsbedingungen”. Aber wird schon so gemeint sein
(denn wir sind ja alle für eine gute Alltagsversorgung), und drei Fächer (Pflegewissenschaft, Biometrie/Epidemiologie/
Medizininformatik und Registerforschung) haben’s auch in die Einzelnennung geschafft. So wie man die Betonung der
Forschung hinsichtlich der Antibiotikaresistenz und der armutsassoziierten Erkrankungen ja nur begrüßen kann und muss!
Zu Gesundheit und Pflege fällt als erstes auf, was nicht drinsteht: Der Investitionsstau der Krankenhäuser, mindestens 50
Mrd. Euro schwer findet keinerlei Erwähnung; das kann doch wohl nicht wahr sein. Offensichtlich hat es trotz (oder
wegen?) der starken Beteiligung der Ländervertreter gerade auf der Bund-Länder-Schiene Probleme gegeben, so fehlt
z.B. auch jegliches Eingehen auf das unselige Kooperationsverbot auf dem Gebiet der Hochschulen, ja überhaupt jede
Diskussion oder Probelmatisierung der Bund-Länder Beziehungen (Beispiel Schulabschlüsse). Welche noch größere
Koalition sollte das Thema denn sonst anpacken? So ist es z.B. im Gesundheitsbereich auch völlig unklar, wie der Bund
seine neuen Vorstellungen in die regionale Krankenhausplanung einbringen will, denn die Krankenhausplanung ist ja nun
mal Länderaufgabe.
Als zweites fällt auf, dass auch hinsichtlich unseres wichtigsten Problems, nämlich der Defizite in Intergration und
Koordination, die Entwicklung in die falsche Richtung zu gehen droht. Es ist nämlich davon auszugehen, dass durch die
neueingeführte paritätische Besetzung der KV-Gremien durch “Hausärzte” und “Fachärzte” (Primär- und
Sekundärfachärzte) die Sektorierung der Versorgung noch weiter zunehmen wird. Wir werden schon genug Probleme
haben, den 5. Sektor in Form der Ambulanten Spezialärztlichen Versorgung, Erbe der alten Bundesregierung, zu
integrieren, durch die jetzt angedachte Regelung wird es zu einer weiteren Aufspaltung kommen. Das ist genau das, was
wir NICHT brauchen. Ob diese Tendenz zur Verstärkung der Sektorierung durch begrüßenswerte, Integrations-fördernde
Elemente wie stärkere Öffnung der Krankenhäuser zur ambulanten Versorgung (§116a), der Förderung der Praxisnetze
und Medizinischen Versorgungszentren, Termingarantie beim Facharzt, Stärkung des Entlassungsmanagements,
überhaupt Abgleichung und Verbesserung der integrativen Elemente unserer Gesundheitsversorgung aufgewogen wird,
darf stark bezweifelt werden. Hier liegt ein ganz entscheidender Schwachpunkt des Vertrages.
Als drittes Problemthema kommt ausgerechnet der Qualitätsgedanke daher. Erst denkt man, wunderbar, ein Born der
Freude, denn Qualität allerorten. Schon beim ersten Lesen stutzt man dann vielleicht, große Hoffnungen werden in die
“Routinedaten” gesetzt, sie sollen es richten. Wenn man sich ein bisschen mit der Thematik auskennt, kann man nur
sagen: Vorsicht, Vorsicht. Noch ein neues Institut für Qualität soll her, man stutzt wieder, zwei haben wir doch bereits,
IQWIG und AQUA. Wird es besser werden durch noch ein drittes? Da kann man doch zweifeln. Krankenkassen sollen die
Routinedaten liefern, Versorgungsforschung soll gestärkt werden, ein 300 Millionen Euro starker Innovationsfond wird
aufgelegt, aus dem innovative Versorgungsformen, “die über die Regelversorgung hinausgehen” gefördert werden sollen.
Nun gut, wiederum nicht schlecht, vielleicht kommen wir endlich mit Strukturinnovationen weiter..
Aber das sind alles Petitessen, wenn man - beim zweiten Lesen - darüber nachdenkt, welche Probleme nun alle per
Qualität gelöst werden sollen: Reduktion der Zahl der Krankenhäuser und Krankenhausbetten! Reform der Vergütung
durch neue Qualitäts-bezogene Vergütungselemente! Qualitätsbezogene Krankenhausplanung! Was für eine
Überschätzung des Qualitätsgedankens. Also nicht nur Qualitätstransparenz schaffen - das klappt ja schon ganz gut,
sondern über die Qualität auch die natürlich dringendn notwendige Reform der Versorgungs- respektive
Krankenhausplanung in der Peripherie vorantreiben, und drittens noch die Mengenanreize unserer sektoralen
Finanzierungssysteme (z.B. DRG) ausgleichen. Richtig gehört - Qualität soll den Mengenanreiz des DRG-Systemes
ausbalanzieren? Das wird brenzlig. Wir haben zwar die hervorragende Qualitätsberichterstattung durch das AQUA-Institut
(hier), wir haben auch eine wache und aktive Quality-and-Safety Szene, aber wir haben bislang weder Indikatoren, die für
Pay for Performance (P4P) geeignet wären, noch solche, die für die Versorgungsplanung in der Peripherie geeignet wären.
Ganz abgesehen davon (s. SVR-Gutachten 2007), dass es fraglich ist, ob man mit “Krankenhausplanung” überhaupt die
richtige Saite anschlägt (einzig sinnvoll wäre “Versorgungsplanung” über alle Sektoren hinweg), und ob das zentral
überhaupt zu administrieren wäre (sicher nicht). Und die Kopplung der Qualitäts-orientierten Vergütung an die
Mehrleistungsabschläge im Krankenhaus erscheint ja zunächst als ein vernünftig erscheinender Gedanke, nur wer solche
Verhandlungen kennt, muss stark bezweifeln, dass das in der Praxis umgesetzt werden kann. Bei den Verhandlungen über
die Mehrleistungen wird von Krankenhausseite immer mit den lokalen Bedingungen, dem Zuweiserverhalten und den
lokalen Morbiditätsrisiken diskutiert; und was wird bei den Qualitätsindikatoren der Fall sein? - genau dasselbe. Da soll
eine Einigung mal kommen. Und da hilft auch kein drittes Qualitätsinstitut nichts.
Damit können wir uns dem vierten Thema zuwenden, der Finanzierung. Nicht nur bei den Steuern bleibt die durch nichts
zu rechtfertigende Bevorteilung der Kapital- und Zinserträge (25%) gegenüber den Arbeitseinkommen (bis 42%) erhalten,
sondern wird jetzt auch der Zusatzbeitrag nach oben freigegeben und an die Arbeitseinkommen gekoppelt - unter
Schonung des Arbeitgeberanteiles, der bei 7,3% festgeschrieben wird. Kapital- und Zinserträge bleiben draußen vor, und
die Zuschüsse in den unteren Einkommensregionen - da findet man nichts im Vertrag. Natürlich ist die bei der SPD
verhasste Mini-Kopfpauschale weg, aber mit der jetzigen Regelung ist das gesamte Morbiditäts- und Innovationsrisiko
allein bei den sozialversichterungspflichtigen Arbeitnehmern abgeladen, in dieser angeblich so sozialdemokratisch in der
Wolle gefärbten ganz ganz großen Koalition. Die gleichen Überlegungen gelten übrigens für die Anhebung des
Pflegeversicherungs-beitrages um 0,5%. Nicht veröffentlichte Nebenabreden mal dahingestellt.
Zum Schluss (wobei es bei diesem riesigen Vertragswerk eigentlich kein Schluss geben kann): Gesetzesinitiative zur
Tarifeinheit. Der Marburger Bund wird sich freuen. Erhöhung der Förderung der Ausbildung in der Allgemeinmedizin. Das
wird die Hausärzte freuen. Neufassung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs - endlich. Finanzierung der Geburtshilfe durch
Hebammen verbessern, sinnvoll. Präventionsgesetz - wer wird das bezahlen. Am Fremd- und Mehrbesitzverbot der
Apotheken wird festgehalten. Das wird die Apotheker freuen. Bei der Arzneimittelzulassung wird der Altbestand
ausgespart. Das wird die Pharmaindustrie freuen, und wir werden viele nutzlose Medikamente behalten. Krankenhäuser
sollen sich an Medizinprodukte-Prüfungen beteiligen, Register sollen dabei helfen - das ist das einzige Mal, dass im
gesamten Text der Begriff Patientensicherheit auftaucht, bemerkenswert. Bestechlichkeit im Gesundheitswesen soll
bestraft werden. Das gibt Ärger. Hochkostenfälle der Universitätskliniken werden extra vergütet. Ob das den
Universitätskliniken nützt? Recht auf (bezahlte) Zweitmeinung. Gute Sache, warten wir mal auf die
Durchführungsbestimmungen.
Ansonsten, wie gesagt: ausdrucken, aufbewahren, in vier Jahren mal nachsehen.
28.11.2013: Koalitionsvertrag II: Von der Traditionsschifffahrt bis zum Atommüll
Berlin vibriert. Koalitionsvertrag: Leicht vergisst man, dass selbst bei einer 80%-Koalition alles ja erstmal noch Gesetz
werden muss. Und auch noch durch den Bundesrat, wo ganz andere Farben dominieren, und wo ganz andere Interessen
vorherrschen.
Am meisten war man ja auf das Kapitel Arbeit und Soziales gespannt. “Gute Arbeit” wird die Arbeit hier genannt, hoffentlich
empfindet das niemand als bloßen Euphimismus. Doch dann kommt der Mindestlohn (mit Übergangsregelungen, aber
trotzdem, ab 2017 wird er gelten), die Finanzkontrolle bekommt mehr Arbeit (Missbrauch von Werkverträgen), Leiharbeit,
Schutz von Whistleblowern, Rückkehrrecht bei Teilarbeit, und zur Rente: Rente mit 63, Lebensleistungsrente, Mütterrente.
Zweifelsohne: SPD-Handschrift mit CDU-Wasserzeichen.
Vorgeschaltet ist das große Kapitel Infrastruktur, “in Deutschlands Zukunft investieren”. Man soll aus seinem Herzen keine
Mördergrube machen, gut ist die Entscheidung für einen funktionsfähigen Nord-Ostsee-Kanal, der ist ja völlig kaputt, und
den Erhalt der Traditionsschifffahrt. Einverstanden? Nein? na ja zugegebenermaßen nicht ganz ernstgemeint, aber was ist
da alles aufgeführt... Maut natürlich (auch LKW-Maut auf Bundesstrassen, das heißt, wir werden jetzt auch dort
fotografiert), aber auch Fahrradverkehr, Fernlinienbusse, WLAN für alle, Breitband für alle, Netzneutralität. Alles muss rein,
in den Koalitionsvertrag. Zur Energiewende klare Worte: “Spätestens 2022 wird das letzte Kernkraftwerk in Deutschland
abgeschaltet.” Und: “Wir erwarten, dass die Kosten für den Atommüll und den Rückbau der kerntechnischen Anlagen von
den Verursachern getragen werden.” Das wird die Aktienkurse von RWE und Co. nicht himmelwärts treiben. Zu den
FInanzmärkten steht schon in der Präambel der bemerkenswerte Satz “Unser Grundsatz heißt: ’Kein Finanzmarkt, kein
Finanzprodukt, kein Finanzmarktakteur ohne Aufsicht’”, und die Einführung der Finanztransaktionssteuer wird beteuert.
Schon wieder dieses Gefühl: man ist einfach platt. Aufheben, diesen Koalitionsvertrag, ich meine: verwahren. In vier
Jahren nachlesen. Mal sehen, was dann wahr ist.
27.11.2013: Zum Advent ein ganz dicker noch nicht gültiger Koalitionsvertrag
Heute morgen im ICE zwischen Ruhrgebiet und Berlin war es nicht zu überhören, alle hatten sie ihn schon gelesen, alle
sind skeptisch, die Telefone liefen heiß. Der Koalitionsvertrag zwischen CDU/CSU und SPD ist fertig. Halt, die
Ressortverteilung, die Ressortverteilung fehlt. Wahrscheinlich will man die SPD-Mitglieder nicht erschrecken, die sollen
nicht über die Posten abstimmen, “die die da oben” unter sich aufteilen. Ist ja ein eindrucksvolles Werk, fast 190 Seiten.
Ein Buch über Deutschland und für Deutschland, von Alpha bis Omega, als Bürger blättert man staunend durch die Seiten,
die haben ja an alles gedacht, denkt man, dann kann ja nichts schief gehen. Von “immaterielle(n) Werte(n) wie Familie,
Freunde und Freiheit” bis zu einem “Indikatoren- und Berichtssystem zur Lebensqualität in Deutschland”, von
Rüstungsexporten und Managergehältern, von Mindestlohn und Whistleblowerschutz, Frauenquote und Digitaler Agenda.
Schwer von Bedeutung, denn “Unser Land braucht eine neue Gründerzeit”, “nach der Erfindung der Dampfmaschine, der
Industrialisierung und dem Start des Computerzeitalters, sind wir jetzt mit dem ‘Internet der Dinge’ schon mitten in der
vierten industriellen Revolution.” Na, wenn das mal richtig gezählt ist. Aber so eine sehr große Koalition kann ja schon eine
gewisse Deutungshohheit für sich beanspruchen, oder? Lieber hätte man natürlich eine bürgerrechts-orientierte Haltung zu
Themen wie Datenschutz, Sicherheitsverwahrung, Massen-Gentests, und vor allem Vorratsdatenspeicherung. Die
Überprüfung der 9-11 Sicherheitsgesetze steht an (keine Erwähnung im Koalitionsvertrag). Müssen wir uns da auf
Schlimmes gefasst machen? Oh, oh, die große Koalition, wir werden noch unsere Freude daran haben.
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