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Matthias Schrappe
Lesen
Die soziale Eroberung der Erde. eine biologische Geschichte des Menschen von Edward O. Wilson, C.H. Beck, München 2013 (ISBN 978-3-40664530-3) Zum Clou komme ich gleich, und der hat es durchaus in sich. Aber trotzdem muss man eine kritische Bemerkung an den Anfang stellen, die den ersten Teil des Buches betrifft, der sich dem Leser naturgemäß auch als erstes entgegenstellt - und weil man es so vielleicht vermeidet, das Buch vorschnell entmutigt aus der Hand zu legen. Es ist dieser parlierende und springende Stil des Experten, der einen verrückt macht. Des Experten, der verständlich schreiben möchte, bei dem man aber nie weiß, ob das Gesagte korrekt unterlegt und systematisch abgeleitet oder nur besonders effektvoll in Szene gesetzt ist. Oder man nix verstanden hat. Das Buch ist, wie man so schön sagt, gut geschrieben, aber man vermisst sowohl einen zwingenden induktiven als auch einen klaren deduktiven Ansatz. Natürlich ist der Autor eine der ganz großen Koryphäen der Biologie und der sozialen Erscheinungen, die die Biologie erforscht (Ameisen, Wespen, Termiten etc.), und er blickt zweifelsohne über den Tellerrand hinaus. Aber ist das Buch jetzt entlang der Evolutionsgeschichte des Menschen aufgebaut, oder welchen Duktus gibt es sonst - und warum werden die Hauptthesen schon im ersten Viertel des Buches genannt, wo man doch erwartet, sie würden im Laufe der Argumentation entwickelt und belegt? Oder versteht man das Nachfolgende erst, wenn man die Thesen zuvor verinnerlicht hat? Dabei ist der Clou, wie gesagt, durchaus aufregend. Wilson stellt nämlich die These auf, dass es nicht nur individuelle Merkmale sind, die genetisch vererbt werden (individuelle Selektion), sondern dass auch soziale Verhaltensweisen im Sinne einer Gruppenselektion vererbt werden. Das ist geradezu ein Tabubruch: dass sich die Natur des Menschen, die Zivilisation und die Kultur als Produkt aus dem “unvermeidlichen Zusammenprall von individueller Selektion und Gruppenselektion” (S. 74) entwickeln. Der Mensch ist also nicht allein “seines Glückes Schmied”, sondern auch Gruppen treten als Merkmalsträger auf und entwickeln genetisch basierte Verhaltensformen, die für das Gruppenüberleben günstig sind. In der Anlage-Umwelt Debatte (was prägt den Menschen mehr) stellt der Autor sich als Biologe natürlich auf die Anlage-Seite, das erstaunt nicht. Erstaunlicher schon, dass er als Insektenforscher sein Lieblingsobjekt, die hochentwickelten Sozialsysteme der Ameisen und andere Insekten (Eusozialität), klar in die zweite Reihe stellt und nicht etwa als Idealbild des Zusammenlebens preist: diese Insekten treten als Superorganismus auf, nicht als Gruppe von individuellen Organismen. Und nicht zuletzt kritisiert er Konstrukte wie die Verwandtenselektion, die soziale Phänomene wie den Altruismus als genetisch vermittelten Mechanismus zur Verbesserung der Chancen eines familiären Verbundes interpretieren, und setzt mit seinem Konzept der Gruppenselektion dagegen, dass der Mensch über genetisch determinierte Eigenschaften verfügt, die Gruppenaspekte außerhalb des Verwandtenbezugs betreffen. Dass hat natürlich erhebliche Konsequenzen für die aktuelle Diskussion um das Menschenbild, das vor allem in der Ökonomie zum Tragen kommt. Als Destillat des “Nutzens” stünde nicht mehr nur die Perspektive des einzelnen Individuums zur Diskussion (homo oeconomicus), der nur genug “angereizt” werden muss, um über den Markt sich selbst und die Gesellschaft voranzubringen - was sich ja schon herumgesprochen hat. Und auch nicht die Verwandtenperspektive (”Blut ist dicker als Wasser”). Sondern: die Biologie, wohlgemerkt die Biologie, würde Argumente liefern, dass es Merkmale sozialer Gemeinschaften gibt, die sich evolutionär herausgebildet haben, und die anlagebedingt (nicht durch Einflüsse der Umwelt sekundär hinzugekommen) Nutzen stiften. Damit gäbe es ein biologisches, naturwissenschaftliches Argument dafür, dass sich die Ökonomie mit Konzepten beschäftigen muss, die über das Individuum hinaus auch das Verhalten von Gruppen, ja sogar der Gesellschaft und der Kultur in den Mittelpunkt stellen. Das Konzept des Nutzens als Endpunkt ökonomischer Betrachtungen müsste neu gefasst werden, der alte Satz: was dem Individuum nützt, ist auch für die Gesllschaft am besten - dieser wäre überholt. Über den weiteren Verlauf dieser Diskussion darf man wirklich gespannt sein.
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