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Matthias Schrappe
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Simulative Demokratie. Neue Politik nach der postdemokratischen Wende von Ingolfur Blühdorn, Edition Suhrkamp, Berlin 2013, ISBN 978-3-518-12634-9 (16.08.2017) Das Demokratische Paradox ist in aller Munde: die Menschen wertschätzen die Demokratie ungemein, trauen ihr aber gleichzeitig kaum noch Lösungskompetenz zu. Es hat sich auch eingebürgert, von der Post-Demokratie zu sprechen: Die Strukturen sind noch vorhanden, funktionell aber den Anforderungen einer durch Internationalisierung und Komplexität charakterisierten Umwelt nicht mehr gewachsen; in der Folge wird demokratische Partizipation abgelöst durch ökonomische Imperative, durch Expertenkommissionen und durch eine Verwissenschaftlichung sowie Verrechtlichung der Politik. Die Analyse in “Simulative Demokratie” setzt hier an und entwickelt das Demokratische Paradox zum Begriff des “Post-demokratischen Paradox” weiter: die Demokratie kann ihre eigenen Voraussetzungen (relevanter Handlungsrahmen, Funktionalität und Wahrung der individuellen Autonomie) nicht mehr reproduzieren und erlebt einerseits die Abkehr des Bürgers, der die aktive Beteiligung nicht mehr als Option wahrnimmt (bestenfalls delegiert), muss aber andererseits - im deutlichem Widerspruch hierzu - mit einer massiven Radikalisierung der Erwartungen an die Demokratie umgehen. Aus dieser “paradoxen Gleichzeitigkeit von Erosion und Radikalisierung demokratischer Wertvorstellungen” (S. 44) mit der daraus folgenden “Überblähung” der politischen Subjektivität im Sinne des sprichwörtlichen “Wutbürgers” wird unter dem Begriff der “Simulativen Demokratie” ein politisches Konzept entwickelt, das einerseits die (postulierte) Dysfunktionalität des demokratischen Systems berücksichtigt, entsprechende Ersatzmechanismen einsetzt und die Aufgabe der Verantwortung der Individuen akzeptiert, andererseits aber glaubhaft den Eindruck vermittelt, die radikalisierte demokratische Mitwirkung sei erwünscht und werde praktisch umgesetzt. Das Werk “Simulative Demokratie” des in Wien lehrenden Soziologien und Politologen Ingolfur Blühdorn ist irritierend gut, anders kann man es nicht sagen. Es ist irritierend in seiner analytischen Tiefe, die auch kritische (gefährliche?) Untiefen nicht auslässt - es ist gut, weil es in seinem analytischen und nicht normativ-urteilenden Duktus den Leser mit der Thematik wirklich beschäftigt. Es werden nicht die immergleichen Schablonen der von progressiver Seite vorgetragenen Zivilisations- und politischen Kritik vorgetragen, durch die nur wahlweise das Entsetzen, die Handlungsunfähigkeit oder vermeintliche Handlungsoptionen sichtbar erscheinen, sondern es werden reale Fragen der politischen Theorie diskutiert, die relevant sind, in die Zukunft weisen und überdies, man mag es kaum zu sagen, dem gesellschaftlichen Erleben entsprechen: die Ankündigung von Merkel und Steinbrück, das Geld der Bürger sei sicher, der verkindlichte Bürger, der in sein Smartphone starrt, während sich um ihn herum die Welt rasant verändert - mit möglichen katastrophalen Folgen - aber jederzeit bereit ist, den nächsten shit storm loszutreten. Letztlich kommt es gar nicht so sehr darauf an, ob man nun mit dem Konzept der “Simulativen Demokratie” übereinstimmt oder es als eine interessante Denkfigur neben anderen betrachtet - es ist die Vielschichtigkeit der Analyse, die die Lektüre dieses Buches interessant macht. Es soll dabei nicht außen vor gelassen werden, dass man sich manchmal nicht ganz sicher ist, ob der Autor gegenüber der “Simulativen Demokratie” nicht ein bisschen zu viel Sympathie mitbringt, obwohl er dies - das sei mit aller Deutlichkeit gesagt - wiederholt von sich weist: Keinesfalls soll hier zur Legitimation einer neuen autoritären Politik beigetragen werden, ...” (S. 158), sondern es gehe allein um die Beschreibung und Analyse eines “Formwandels der Demokratie” (ebd.). Ohne Zweifel, mit einem einmaligen Lesen kommt man bei diesem Buch nicht aus, aber es ist so geschrieben, dass man ohne Schwierigkeiten Teile nochmals lesen und auch mittendrin einsteigen kann. Kapitel 2, mit dem Begriff des Demokratischen Optimismus” überschrieben, eignet sich z.B. sehr gut als Start, denn hier werden die gängigen Optionen der Weiterentwicklung der Demokratie in aller Sachlichkeit diskutiert und mit den Gegenargumenten konfrontiert. Trotzdem bleibt dem Leser die schwierige Aufgabe, die Analyse zu verstehen und aufzuschlüsseln (aber man soll sich nicht beschweren, wozu ist man denn als Leser da). Nach längerer Beschäftigung mit dem Buch treten immer deutlicher drei Gedankenstränge oder Wurzeln in den Vordergrund, die hierzu hilfreich sein könnten: als Basis die kritische Demokratietheorie, als Konkretisierung die aktuellen Entwicklungen der politischen Ökologie (”post-ecologic turn”) und als eigentlicher analytischer Kern, den dieses Buch ausmacht, die “2. Postmoderne” bzw. “zweite Emanzipation” des Individuums. Die politische Ökologie ist wohl im wissenschaftlichen Duktus des Autors bereits seit längerem als wichtiges Topos angelegt, die modernisierungstheoretischen Ausführungen dürften aber den Bogen zu einer umfassenderen Theorie vervollständigen. Der demokratietheoretische und -kritische Einstieg beginnt mit einem kurzen historischen Aufriss. Die grundlegende Diagnose ist nicht ganz neu, denn dass die Demokratie weder aus historischer Perspektive noch hinsichtlich des aktuellen Anorderungsprofils zwangsläufig als “beste Lösung” anzusprechen ist, hat sich ja herumgesprochen. Demokratie kommt als ein Instrument (sie ist kein Selbstzweck) ihren Versprechungen (Breite der Gültigkeit, Effektivität des Souveränitätsanspruchs und Verwirklichung des Gleichheitsanspruchs) nicht mehr genügend nach, da die Voraussetzungen der Demokratie immer weiter geschwächt werden: Verschwinden eines nationalstaatlichen Handlungsrahmens, Auflösung der Kongruenz von Verantwortung und demokratischer Mitbestimmung und letztlich die Relativierung der individuellen Autonomie und Souveränität, ohne die eine demokratische Ordnung nicht darstellbar erscheint. Besonders wird diese Problematik, vor der die Demokratie als Instrument der gesellschaftlichen Koordination steht, bei der Thematik “Grenzen des Wachstums” deutlich. So wie viele andere politische Autoren (Crouch, Mouffe, Rancière etc.) ebenfalls argumentieren, verweist auch Blühdorn darauf, dass die Demokratie, gerade in Verbindung mit einem liberalen Wirtschaftsverständnis, angesichts der weltweiten und auch regionalen Grenzen des Ressourcenverbrauchs auf gutem Wege ist, seine eigenen Grundlagen zu ruinieren, da entsprechende Gegenmaßnahmen entweder nicht mehr im Rahmen des Möglichen erscheinen oder jenseits des Handlungshorizonts liegen. Trotz dieser offensichtlichen Relevanzdefizite zeigen Umfragen und Interviews jedoch immer wieder, dass die Demokratie als Konzept eine große Zustimmung und Wertschätzung genießt - dieses sog. Demokratische Paradox wurde oben schon erwähnt. Der Ansatz von Ingolfur Blühdorn geht jedoch in zweierlei Hinsicht darüber hinaus, und hier kommen die zwei weiteren Wurzeln zur Geltung, die zusammen mit dem demokratiekritischen Einstieg den backbone des Buches bilden: die Übertragung zentraler Argumentationsstränge der politischen Ökologie auf die Demokratietheorie einerseits, und die modernitätstheoretische Analyse der Emanzipation unter den Bedingungen der “zweiten Postmoderne” andererseits. Man kann auch sagen, der Autor versucht eine Theorie zur Beantwortung der Frage zu entwickeln, warum denn niemand einen Anlass zum Handeln erkennt, letztlich warum die Individuen angesichts der offensichtlichen Widersprüche stumm bleiben, obwohl sie sich (gelegentlich) laut äußern. Die individuelle Strategie der Selbstoptimierung steht ja hoch im Kurs, ohne dass auch nur die geringste Chance besteht, dass der individuelle Handlungsrahmen ausreicht, um wenigstens zu einer realistischen Sicht der Dinge zu kommen, geschweige denn, wirklich eine Richtungsänderung zu erreichen. Beüglich des politisch-ökologischen Zugangs geht Blühdorn von dem von ihm selbst mitentwickelten Begriff des post-ecologic turn aus und überträgt ihn auf das Konzept der Postdemokratie und des postdemokratischen Paradox. Die o.g. Zweifel an der Nachhaltigkeit der gegenwärtigen Gesellschafts- und Wirtschaftsformen hinsichtlich ihrer ökologischen Basis spielen eine große Rolle in Demokratie-kritischen Diskussionen unter dem Rubrum der Postdemokratie. Wenn aber das postdemokratische Paradox den Tatbestand beschreibt, dass sich die Demokratie schon längst zur Postdemokratie verabschiedet hat, sich aber gleichzeitig die Anforderungen der Insttutionen und Individuen an der Berücksichtigung ihrer demokratischen Rechte dramatisch radikalisieren, dann bedeutet der post-ecologic turn, dass alle Beteiligten die Problematik und deren Konsequenzen sehr genau kennen, sie diese Erkenntnis aber nicht an der Weiterführung von Verhaltensformen hindert, die für genau diese Problematik verantwortlich sind, sondern sie dazu veranlasst, intensiv nach individuellen Auswegen zu suchen, um von den Folgen verschont zu bleiben. Diese zweite Wurzel, auf der dieses Buch aufbaut, ist gerade deshalb so wichtig, weil sie das Versprechen der “Neuen Sozialen Bewegungen” der letzten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts zum Ausgangspunkt nimmt und diskutiert, was aus den damaligen An- und Einsichten sowie den eingegangenen Verpflichtungen geworden ist. Dies führt zur dritten Wurzel, der Modernitätstheorie bzw. der Emanzipation des politischen Subjekts (auch hier sind die Parallelen zur Ökologie offensichtlich). Die erste Moderne hat die technologische Beherrschung von Natur und Gesellschaft zum Gegenstand, außer den Eliten profitiert das Individuum vielleicht durch eine Verbesserung des Lebensstandards, aber nicht im Sinne der individuellen Autonomie. Dies wird in der zweiten Moderne grundlegend geändert, die Selbstbestimmung des Individuums tritt in den Mittelpunkt, die Eliten werden kritisiert (emanzipatorische Revolution). Die dritte Moderne basiert hingegen auf dem flexibilisierten, seine Autonomie nur inszenierende Subjekt, die tatsächliche Wahrnehmung der Autonomie tritt in den Hintergrund. Der “ersten Emanzipation” mit dem “Auszug aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit” in der ersten Moderne folgt in der zweiten Moderne die “zweite Emanzipation” mit dem “Auszug aus der selbsterstrittenen Mündigkeit” (S. 146), die demokratischen Pflichten und Rechte werden zur lästigen Beschäftigung, die gerne an Dritte delegiert wird. Die Perspektiven der politischen Gestaltungsebene ergeben sich rasch, wenngleich das Buch seinen Auftrage auch dann längst erfüllt hätte, wenn es sich im geschilderten Sinne auf die Herleitung der Fragestellung beschränken würde: wie kann eine Politik aussehen, die einerseits angesichts der Komplexität der Aufgabenstellung ein Mindestmaß an Funktionalität gewährleistet und dabei Partizipation weitgehend ausschließt, und andererseits die Partizipation des Individuums vorspiegelt, so dass der genannten inszenierten Individualität Rechnung getragen wird. Hier kommt das Konzept der “Simulativen Demokratie” ins Spiel, das (wie hier vielleicht noch anzumerken sei) vom Autor klar vom Begriff der “Symbolischen Politik” abgegrenzt wird. Als Begründung führt Ingolfur Blühdorn an, dass Letztere ja vorgeben würde, es gäb eine “authentische Politik”, die heute als adäquat zu bezeichnen wäre. Doch im Unterschied dazu “... geht der Begriff der simulativen Politik davon aus, dass eine authentischere Alternative zur tatsächlichen politischen Praxis nicht mehr zur Verfügung steht, weil dafür die systemischen Imperative längst zu übermächtig sind, die normativen Grundlagen fehlen, die Interessenkonstellationen zu veränderlich, komplex und widersprüchlich sind und jede vermeintlich authentische Politik mit den postdemokratischen Bedürfnissen der Bürger in Konflikt geraten würde” (S. 182/3). Harter Tobak - aber solche Fragen gehören gestellt. Man möchte diesem Buch eine weite Verbreitung und eine fruchtbare Diskussion seiner Inhalte wünschen.
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