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Matthias Schrappe
Lesen
Das Reich des kleineren Übels. Über die liberale Gesellschaft von Jean-Claude Michéa, aus dem Französischen von Nicola Denis, Matthes & Seitz, Berlin 2014, ISBN 978-3-95757-015-4 (02.05.2017) Ingolfur Blühdorn’s Buch “Simulative Demokratie” liegt leider noch im Stapel (lesenswert: zur postdemokratischen Wende, kommt hier auch noch dran), um so weniger verzeihbar, als dass er im Kärntner Hochtal meinem guten Freund Ingo den Tip zu “Das Reich des kleineren Übels” zugerufen hat - dies sei sozusagen die Fortsetzung von Didier Eribon’s Rückkehr nach Reims. Wie recht er hat! Ein gut geschriebenes, theoretisches Buch, das wirklich mit Genuss gelesen werden kann (zum Beispiel im Urlaub). Bringt Spaß, bringt Einsicht, wer sein Einschätzungsvermögen in den heutigen Zeiten schärfen möchte, wer die Fronten verstehen möchte vom Trumpismus bis, ja zu eben bis zum Libaralismus, der sollte dieses Buch zur Hand nehmen. Auf den ersten Blick macht es vielleicht einen etwas komplizierten Eindruck, aber nur auf den ersten Blick. Es enthält sieben Kapitel, zentral für das Verständnis (nicht nur im Sinne der Zahlenreihe) ist das 4. Kapitel “Tractatus juridico-economicus”. Keine Angst, es ist nicht in Latein, sondern in gut übersetzem Deutsch, übersetzt aus dem Französischen - und wieder mal ist diese französische Provenienz für eine erfreuliche Horizonterweiterung verantwortlich, wir schauen ja so gespannt ins Nachbarland, jetzt und schon seit ein paar Jahren. Aber zurück zum Aufbau: diese sieben Kapitel sind kurz, jeweils gut in einer Stunde zu lesen, enthalten Fußnoten und immer auch noch einen vielfältigen Anhang, und jeder Teil des Anhangs hat nochmal ein paar Anhänge (manchmal, nicht immer) und natürlich nochmals Fußnoten. HALT nicht aufhören zu lesen, denn das ist gerade das Gute: man kann die Kapitel erstmal so lesen, und dann nochmal mit ein paar Anhängen, dann merkt man: die Anhänge sind’s ja eigentlich, und plötzlich machen auch die Fußnoten Spaß. Worum es geht? Es geht, wie der Titel ... Nein, anders anfangen. Es geht um den Film Fight Club (mit Brad Pitt und Peter Norton, von David Fincher, der ja auch für House of Cards verantwortlich zeichnet), und den Kannibalismus-Fall in Rothenburg. Es geht um die Dreyfuss-Affäre und was die moderne Linke (nicht nur in Frankreich) daraus gemacht hat, Trotzki’s Ledermantel wird auch kurz gestreift (was ihm nicht gut bekommt), und es geht um die Ansicht, dass es sowas wie einen “guten” Liberalismus gibt, der sich ums Politische, ums Kulturelle dreht, und den “bösen” Liberalismus, der die schnöde Ökonomie verwaltet. Mit dieser Ansicht räumt der Autor gründlich auf: das erste Kapitel heißt nämlich “Die Einheit des Liberalismus”. Und was hat das nun mit dem informed consent-Kannibalismus zu tun? Der Liberalismus behauptet zwar, ohne Regeln auszukommen (sofern es niemandem schadet), ist aber gezwungen, ebensolche unablässig aufzustellen, und greift somit dann doch zu überbordender Regulation - wenn man da nicht auf die Koordinationskräfte des Marktes zählen könnte (die berühmte “unsichtbare Hand”). Das am Beispiel des Kannibalismus aufzuzäumen, ist natürlich ziemlich schräg... aber es gibt genügend andere Beispiele, die diskutiert werden. In der Folge bleibt als Aussage bestehen: Wenn der politische Liberalismus im wirtschaftlichen Liberalismus immer wieder seinen natürlichen Schwerpunkt findet, dann deshalb, weil Letzterer sowohl seinem Projekt als auch seinen Prinzipien nach bereits von Anfang an die dem Problem der Moderne entsprechende politische Antwort darstellte” (S. 51). Der Linken in Frankreich und anderswo wirft Michéa vor, sich auf die kulturellen Werte des politischen Liberalismus zurückgezogen zu haben, so dass die Bürger (Arbeiter, Angestellten, Wähler ...) nur noch die Wahl haben, diesen kulturellen Anspruch mitzugehen (wozu sie teilweise keine Neigung verspüren) oder sich der Rechten zu verschreiben. Die Folgen sind ja bekannt. Und was ist mit Fight Club? Ich habe mir den Film nochmals angesehen - herrje. Michéa macht im sechsten Kapitel daraus den Kampf zwischen dem väterlichen, patriarchalischen Prinzip und der matriarchalischen, “verstehenden” Herrschaft, verkörpert durch die beiden Darsteller (mit dem bekannten Verlauf: ich will aber nichts verraten). Das hat was, gleichzeitig ist man sich nicht sicher, ob D. Trump den Film nicht auch ganz super finden würde. Nun ja, man kann von einem Buch nicht die Lösung aller Probleme erwarten (und so verzichtet der Autor im letzten Kapitel auch darauf, eine solche zu versprechen), aber ein intelligentes Buch sticht vielleicht gerade dadurch heraus, dass es nicht alle Fragen für alle Zeiten zu lösen vorgibt, dafür aber den Leser auf intelligente Fragen aufmerksam macht.
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