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Matthias Schrappe
Lesen
Ego. Das Spiel des Lebens von Frank Schirrmacher, Karl Blessing Verlag, München 2013 (ISBN 978-3-89667-427-2) Frank Schirrmacher, Mit-Herausgeber der FAZ, hatte (nicht überraschend) eine reichhaltige Presse für sein Buch. “Eine bemerkenswerte Kampfschrift gegen den Kapitalismus” titelte die Zeit im Februar, man ist erstaunt. Was ist mit der FAZ los? Aber immer der Reihe nach. Es ist wirklich eine Kampfschrift, und zwar eine im Galopp, rasant geschrieben, und nicht ohne originelle Aspekte. Eine feuilletonistische Analyse, enorm effektvoll, sie jagt von Zitat zu Zitat, manchmal weiß man gar nicht, ob es die direkte Rede oder noch das Zitat ist, das Buch nimmt einen mit beim Lesen. Dabei ist es ja nicht so, dass es gegenwärtig keinen Kritik am Kapitalismus gäbe. Ebensowenig ist es ganz neu, dass das Menschenbild des homo oeconomicus an seine Grenzen gestoßen sein könnte, Finanzkrise zum hundersten, und dass dieses Menschenbild sogar diese Grenze überschritten hat, zum Schaden Vieler. Aber Schirrmacher spannt den Bogen erfrischend weit, wenn er die Radarüberwachung im Kalten Krieg als Geburtsstunde der Spieltheorie anführt, des rational choice, dem Gegner immer ein Schritt voraus, berechnend was dessen nächster Schritt sein könnte. Und wenn er den Fall der Mauer anführt als Zeitpunkt, in dem nicht nur im Osten, sondern auch im Westen viele intelligente Köpfe (dito Physiker) plötzlich nicht wussten, was tun - und sich in der Finanzindustrie wiederfanden, die auch Spieltheorie wollte. Und praktizierte. Aber der eigentliche Clou dieses Buches besteht darin, wie der Autor Nummer 2  ins Spiel bringt, so dass ich persönlich eigentlich als Buchtitel “Nummer 2” erwartet hätte. Nummer 2 ist nämlich unser datengetriebenes Alter-Ego, gefüttert mit Informationen aller Art, zunehmend komplett im Bilde über uns, durch die Datenflut aus Smartphones, likes, unseren Kommentaren in den ebooks und bald den automatisch erstellten Einkaufslisten unserer Kühlschränke. Diese Nummer 2 wird zum Gegenstand spieltheoretischer Überlegungen, und auf der Basis von big data, also der massenhaften Verfügbarkeit von Daten, kann genau unser Verhalten vorausberechnet werden. Es braucht dafür nur Information, nicht mehr ein Wissen, denn Nummer 2 hat keinerlei Empathie oder andere störende Regungen. Diese Entwicklung wird immer mehr verfeinert, geht so weit, dass irgendwann Nummer 2 die Herrschaft über Nummer 1 übernimmt, dass es als anomal angesehen wird, wenn man als handelnde Person einen anderen Weg geht als Nummer 2 eigentlich vorgesehen hätte. Und übertragen auf die Gesellschaft bedeutet dieser “Informationskapitalismus”, dass die Demokratie nur noch durch Finten und verdecktes Spiel versucht, die Märkte zu beruhigen, eben mitzuspielen, eigentlich aber keine reale Gesaltungskraft mehr hat. Schirrmacher führt hier als Paradebeispiel den Begriff der “marktkonformen Demokratie” von Angela Merkel an, der größte Spieltheoretikerin überhaupt, wie er sie bezeichnet. Das ist eine spannende Lektüre, gerade auch im Kontext Euro-Krise und (was Schirrmacher nicht wissen konnte aber ahnt) NSA-Skandal. Die einzige Schwäche des Buches ist der letzte Teil, nämlich: was tun angesichts dieser Bedrohung? Da werden Transparenz, Daten-Entsagung, die “Marionette töten” (Paul Valèry) wohl nicht reichen. Zurück zur Anständigkeit? Zum guten Menschen? Man bleibt ratlos zurück, was aber den Lesegenuß dieses fulminanten Buches nicht schmälert.
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