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Matthias Schrappe
Lesen
Lettre International Nr. 100 “Niveau sans frontieres” Ausgabe Frühjahr 2013 Richtig, kein Buch. Eine Zeitschrift, mindestens eine 5/4 Zeitschrift. Woanders mag das Glas halbvoll oder halbleer sein, hier ist es übervoll. Nicht weil es jetzt 25 Jahre sind, die es den Lettre schon gibt. Nicht weil mit dieser Zeitschrift eine gelungene Synthese von Kultur, Geschichte und Politik zustande gebracht wurde. Sondern wegen der Aufmachung, nein dieser Ausdruck ist zu wenig: wegen der diese Zeitschrift nicht nur bebildernden, sondern sie tragenden Kunst. Das gibt mindestens ein Viertel oben drauf. Eher 6/4, um so mehr man darüber nachdenkt. Es ist einfach ein Genuss, diese Zeitschrift in der Hand zu haben, darin zu blättern, sich die Fotographien oder Prints anzusehen. Ohne zu lesen. Hand auf Herz, alles lesen, was da drin steht, schafft man sowieso nicht (immer). Die Nummer 100, um die es hier geht, sieht allerdings ziemlich zerfleddert aus, wir hatten sie mit auf unserer Bretagne-Reise, und diese Ausgabe ist gelesen. Jetzt kommt sie auf den großen Stapel, wo 99 Ausgaben plus die Nullnummer (oder wurde die mitgezählt, man müsste den schweren Stapel umdrehen) schon ruhen, das ist was für einen Sammler. Aber auch für Leute, die gerne zitieren. In dieser Jubiläumsausgabe reflektieren gut 70 Autoren die ersten 25 Jahre des Lettre International, dessen Zündfunken der Fall der Mauer war. Ob dieser Tatsache oder nicht, auf jeden Fall erweitert sich der westwärts gerichteten Blick des Lesers enorm, dadurch dass ost- und südeuropäische sowie internationale Autoren ausführlich zu Wort kommen. Nicht nur “Warum Europa nicht aufgegeben werden darf”, “Der Geist der Empörung” (ein letztes Interview mit Stéphane Hessel), “Generationengerechtigkeit” (eine kluge Analyse dieses doch eigentlich so gut etablierten - oder nicht? - Begriffes) und “Vom Beginn einer gänzlich anderen Geschichte Europas und der Welt” (hier wird nochmals der Fall der Mauer reflektiert). Sondern “Tod des roten Marshalls” (zum Putsch gegen Gorbatschow 1991), zur Charta 77, “Russische Exzesse”, “Frauen in Indien”, “Gedächtnisschwund. Die Kultur des kollektiven Vergessens als chinesische Führungstrategie” und “Geliebtes Ägypten. Die Machterhaltung der Muslimbrüderschaft gegen die säkularen Kräfte”, eine profunde Analyse der Konflikte im “Arabischen Frühling”, allein dieser Artikel lohnt die ganze Zeitschrift. Und dann findet man weiter hinten plötzlich ein Interview mit Antonio Tabucchi zu “Literatur und Freiheit”, Slavoy Žižek schreibt einen scharfzüngigen Artikel über die “Möglichkeit, Ereignisse ungeschehen zu machen” (als subtile Machtstrategie), und Dirk Baecker analysiert die “Form und Krise der Demokratie im Prozess der Selbstfindung Europas”. Alles nur Momentaufnahmen einer Lektüre. Nicht nur fantastisch bebildert, sondern die Bilder (in diesem Heft in erster Linie Photographien) erzählen ihre eigene Geschichten zum Thema. Wie gesagt, Anschauen reicht auch. Muss man nicht lesen, den Lettre sollte man aber lesen. Unbedingt.
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