Prof. Dr. med. Matthias Schrappe
12.01.2014: Hotel Lutetia
Hotel Lutetia in Paris - wer bereits einmal da war oder vielleicht “Verhängnis” mit der wunderbaren Juliette Binoche gesehen
hat, kennt es, ein Ort zugleich der Liebe und des Todes. Selten jedoch verirrt sich ein Pariser Art dèco Hotel in unsere
deutschen Gazetten, da muss sich dort schon Erschütterndes ereignet haben - und so war es: es handelte wieder von Liebe
und Tod. Ende November des vergangenen Jahres nahmen sich in einer Suite dieses Hotels die beiden 86jährigen Eheleute
Georgette und Bernard Cazes das Leben, Intellektuelle, geistig fit, nicht schwer krank - nur gebrechlich, Blindheit drohte. Der
gemeinsame Wunsch zu sterben, nach 70 Jahre des gemeinsamen Lebens. Aber mit Plastiktüte über dem Kopf ersticken?
das war das Fanal. Die Abschiedsbriefe waren (Le Monde 27.11.13) eine Anklage gegen die Republik: warum kann der
Bürger nicht (auch) zusammenmit seinem Arzt über seinen Tod entscheiden? In Frankreich ist jede Sterbehilfe gesetzlich
strengstens untersagt. Am gleichen Tag wurde bei uns ein Koalitionsvertrag nebst Kabinattszusammensetzung beschlossen,
der neue Gesundheitsminister Gröhe hat sich bereits geäußert, gerade auch zu diesem Thema. Gegen die “erwerbsmäßig
ausgeübte Sterbehilfe”, ja sogar, setzt der Ärztekammerpräsident Montgomery noch drauf: “gegen die organisierte
Sterbehilfe”. Irritation ist ein heilsamer Prozess, Irritation, die Zeit hat, ein paar Tage einzuwirken, eine gute Sache, also: Ist
“Erwerbsmäßigkeit”, ist “Organisiertheit” denn unsere wichtigste Frage zu diesem Thema? Ist die Assoziation richtig, dass es
hier in erster Linie um die Abwehr quasi banden-mäßiger Aktivitäten handelt? Um schnödes Geldabzocken? Wohl ganz und
gar nicht. Es ist ein Appell an niedere Ängste, an niedere Gefühle, völlig fehl am Platz. Wir brauchen eine offene Diskussion
über den Kern des Themas, denn natürlich hat in unserer säkularen Gesellschaft der Bürger und die Bürgerin ein Recht,
beim Thema Tod, beim eigenen Tod ein Wort mitzureden, ohne Rückgriff auf die Plastiktüte oder Kopf auf den Gleisen der
Bundesbahn. Wir dürfen hier weder Hilfe noch Unterstützung versagen. Bei allen Gefahren, die darin stecken, bei allen
Mißbrauchsgefahren, aber so ist es halt: keine Medallie hat keine Rückseite nicht.
02.01.2014: “It’s not rocket science!”
Der Präsident und CEO der Joint Commission (JCAHO*), Mark Chassin, ist einer der ganz alten Kämpen in der
amerikanischen Qualitäts- und Sicherheitsszene, von daher kein Wunder, dass er sich von Zeit zu Zeit fragen (muss):
“Improving the quality of health care: what’s taking so long?” Die Frage haben wir uns doch auch schon mal gestellt, oder?
Er zitiert eingangs den Minnesota-Report 2013, hochgerechnet 50 Fälle von Wrong Site Surgery (Eingriffs- und
Seitenverwechselungen) in den USA pro Woche, das macht runde 2500 Fälle im Jahr. Und das trotz aller Bemühungen um
eine Verbesserung der Situation. Seine Analyse ist bestechend: unsere Analyse- und Präventionstechniken der ersten
Generation kommen an ihre Grenzen, wir brauchen neue Ansätze, die insbesondere den organisatorischen und kulturellen
Wandel in den Mittelpunkt stellen - ganz abgesehen davon, dass wir weite Bereiche wie den overuse von Leistungen
(Überversorgung; Beispiel: nicht indizierte Sectio) bis jetzt gar nicht in den Blick nehmen. Wir haben uns an so viel gewöhnt,
auch daran, dass nur in 40% aller Situationen, in denen dies dringend angezeigt wäre, die Händedesinfektion durchgeführt
wird. Ein Problem der Organisationskultur: “Imagine a protocol that is as essential to the safety of a nuclear power plant as
hand hygiene is to preventing infections in hospitals— it is inconceivable that workers in the power plant would exhibit a
compliance rate of only 40 percent.” Ja, das wäre undenkbar, oder man würde den Laden zumachen. Zu folgern, man
müsse mit “moderneren” Managementmethoden wie Lean Management, Six Sigma, Change Management zu Werke gehen,
gehört nicht gerade zu den Lichtblicken des Artikels, auch nicht, dass die ICAHO dafür den Begriff „Robust Process
Improvement“ (RPI) prägt, Worte sind nicht Taten (aber manchmal braucht man vielleicht neue Worte). Wichtig und richtig
sind jedoch die Begründungen: (1) jedem Qualitätsproblem liegen sehr viele differente ursächliche und beteiligte Faktoren
zugrunde, (2) jede einzelne Ursache bedarf einer eigenen Intervention, (3) für jedes Krankenhaus, jede Einrichtung gelten
andere Faktoren und Bedingungen. Chassin verwendet das Wort “kompliziert”, was er schildert, ist aber Komplexität: die
Regeln sind nicht bekannt, überall sehen sie anders aus, es gibt keine one fits it all-Lösung. Dafür bringt er aber eine
wunderbare Metapher für den Begriff der Komplexität: “It’s not rocket science”, denn: “All rocket scientists have to do is get
a machine to behave the way they want it to”, während wir im Gesundheitswesen vor der Situation stehen, dass wir
“something that doesn’t exist anywhere in the world today: hospitals and health systems in which preventable harm does not
occur” schaffen müssen. Nicht mehr, nicht weniger. (*Joint Commission on Accreditation of Healthcare Organizations”, eine
der führenden Einrichtungen zu Qualität und Patientensicherheit in den USA. Quelle: Chassin ME: Improving the Quality of
Health Care: What’s Taking so Long? Health Aff. 32, 2013, 1761-65)
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