Matthias Schrappe
Lesen
F von Daniel Kehlmann, Rowohlt, Reinbek, 2013 (ISBN 978-3-498-03544-0)
Irritierend. Zwei eineiige Zwillinge, ein Halbbruder, ein Vater. Der Vater nimmt den
Auftritt eines Hypnotiseurs zum Anlass, sich vom Hausmannsdasein zu
emanzipieren, verlässt die Familie und schreibt plötzlich erfolgreich Bücher. Die
Kinder leben ein Leben in der Lüge, alle drei. Am Schluss weiß man ebensowenig
wie die Protagonisten in der Geschichte, ob zwei Zwillinge eins sind. Dass das Buch
im Vorfeld der Lehmann Brothers-Krise spielt, trifft den Zeitgeist gut. Ebenso passt
die Kunstfälscher-Geschichte in unsere Zeit, weckt Assoziationen. Die richtigen
Fragen werden gestellt. Viele Geheimnisse, viele Unwahrscheinlichkeiten, die wirklich
nicht aufgesetzt klingen. Und doch - ratloser Leser. Ist der schnippische, leichte,
ironische Stil, der so gekonnt mit den Effekten, mit den Wendungen spielt, der Sache
adäquat, entspricht er dem Sujet? Trotzdem ein tolles Buch, hervorragend
geschrieben, liest sich wunderbar. Gleich nochmal die “Vermessung der Welt”
herausgeholt, gleicher Autor, mal sehen, was sich im Vergleich sagen lässt.
Ja, und der Vergleich ist sinnvoll. Super Story:
Die Vermessung der Welt von Daniel Kehlmann, Rowohlt, Reinbek, 2005 (ISBN 3
498 03528 2)
geht viel gradliniger zur Sache, weniger effekt-
haschend, gleichwohl genügend verspielt, als dass
man die Sprache gerne liest. Zwei Lebensausschnitte zweier berühmter
Wissenschaftler werden “verschnitten” erzählt, Gleichzeitigkeit der Handlung,
Widersprüchlichkeit der Charaktere und Gegensätzlichkeit der wisssenschaftlichen
Herangehensweisen, darum geht es. Gauß und Humboldt (der Bruder von
Alexander, von dem wir unser Universitätssystem in Deutschland haben, die
berühmte Einheit von “Lehre und Forschung”), der eine rechnet als genialer
Mathematiker alles aus, der andere kriecht in jedes Erdloch, besteigt jeden Berg,
fängt jede Grille. Und doch haben sie etwas gemeinsam, den Positivismus des 19.
Jahrhunderts: “Nichts sei zuverlässig, sagte er zu dem ihn aufmerksam
beobachtenden Hund. Die Tabellen nicht, nicht die Geräte, nicht einmal der
Himmel. Man müsse selbst so genau sein, daß einem die Unordnung nichts
anhaben könne.” Irritierend nur, dass sich die Paralleln in der Unendlichkeit
schneiden... Dass dahinter Menschen stecken. Dass das Alter unerbittlich ist.
Humboldt wird am Schluss auf seiner Rußland-Reise allseits geehrt, kommt aber
nicht mehr zu seinen Messungen (und andere können es plötzlich besser), und
Gauß verliert seinen Sohn, den er ob seiner minderen mathematischen Begabung
verachtet - Liebe kann er nicht empfinden. Und nebenbei erfährt man viel über den
“März” und diese wichtige Zeit, in der die Grundlagen für die heutige
Naturwissenschaft gelegt wurden.
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