Das vorangegangene Kapitel hat schon einen wichtigen Punkt thematisiert, den man auch unter “Ausblick” hätte ansprechen
können: die Klärung der theoretischen Grundlagen bzw. axiomatischen Grundannahmen, die für jedes Forschungsgebiet
notwendig sind. Eine Lösung wird darin liegen, dass auf der einen Seite die Sichtweise der Komplexität als eine
außerordentlich wichtige Perspektive anerkannt und genutzt wird, dass aber auf der anderen Seite qualitative
Forschungsansätze und genauso auch Linearität - soweit wie nötig - akzeptiert werden, um Analysen durchführen zu können
und zu Ergebnissen zu kommen. Wichtig ist diese Diskussion deswegen, weil die Erwartungen an die Versorgungsforschung
schier in den Himmel wachsen, und rechtzeitig der Gefahr begegnet werden muss, dass die Berechtigung und Legitimität der
Versorgungsforschung in Zweifel gezogen werden. Denn es ist schon bemerkenswert, dass zum zweiten Mal hintereinander
die Versorgungsforschung, wohlgemerkt ein wissenschaftliches Konzept, in einem deutschen Koalitionsvertrag (zuletzt von
CDU/CSU und SPD vom 27.11.2013), genannt wird, sogar mit konkretisiertem Mitteleinsatz. Aber nicht nur in Deutschland
greift diese Entwicklung Raum, auch in den USA wurde bereits vor mehreren Jahren, im Rahmen des Affordable Care Act von
2010, mit der dort so bezeichneten Comparative Effectiveness Research (CER) ein entsprechender Versuch gestartet.
Ausgestattet mit noch weitaus höheren Mitteln als in Deutschland diskutiert wird hier das Patient-Centered Outcome Research
Institute (PCORI) aufgebaut, das sich der Versorgungsforschung widmet; die effectiveness-Perspektive steht, wie der Name
sagt, ganz im Vordergrund (Sox 2012).
In gewisser Weise relativiert die Versorgungsforschung die hermetische Abriegelung des Gesundheitssystems bzw. der
Klinischen Forschung. Durch die Versorgungsforschung nimmt die Klinische Forschung zur Kenntnis, dass sie sich auch um
das Schicksal ihrer Ergebnisse in der Alltagsversorgung kümmern muss, erstens weil die Gesellschaft und Öffentlichkeit dies
erwarten, und zweitens, weil sonst die Ergebnisse der Klinischen Forschung keinen Bestand haben. Diese Entwicklung wird
aber dazu führen, dass die Klinische Forschung noch mehr als
bislang mit Werten und Normen der allgemeinen Öffentlichkeit und
Gesellschaft konfrontiert wird. Eines der Themen, bei denen sich
mit Sicherheit eine reghafte Diskussion entzünden wird, ist die
Frage von Datensicherheit, Datenschutz und Einwilligung der
Patienten bzw. der Bürger (Faden et al. 2014, Lane und Schur
2010). Die Versorgungsforschung ist in gewissem Sinne aus dem
Elfenbeinturm der abgegrenzten Klinischen Forschung
herausgetreten und betritt jetzt die “gesellschaftliche Normalität”,
den Alltag der Bevölkerung. Wenn bisher die Themen Koordination
der Versorgung (z.B. durch Leitlinien), der Sektoren, der
Berufsgruppen, die regionale und generationsbezogene
Koordination im Vordergrund standen, dann wird in Zukunft die
Koordination der patientenbezogenen Informationen und Daten
das entscheidende Thema werden, allein schon wegen der schieren
Quantität, aber natürlich auch wegen der Problematik Datenschutz
und Schweigepflicht.
Es ist an dieser Stelle nicht schwer, den Bogen zu der vielleicht wichtigsten wirtschaftlichen Entwicklung der Gegenwart zu
schlagen, die über die Nutzung von großen Datenmengen (”big data”) Entwicklungen aller Art nicht nur zu analysieren, sondern
vorherzusehen. Das “Internet der Dinge” wird nicht vor dem Gesundheitsmarkt halt machen, im Gegenteil, schon heute wird
dort eines der umfangreichsten Anwendungsfelder dieser neuen Technologien vermutet. Die Versorgungsforschung kommt
also in einer Reallität an, die durch eine enorme Dynamik gekennzeichnet ist, und es wird nicht ausbleiben, dass die Daten, die
die Versorgungsforschung nutzt und erarbeitet, vom “Internet der Dinge” mit großem Interesse gesehen werden. Hoffen wir
also, dass eine umsichtige Handhabung der daraus entstehenden Probleme Raum greift, nicht dass die Versorgungsforschung
hier in schweres Wetter gerät.
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4. Ausblick
© Prof. Dr. med. Matthias Schrappe, Venloer Str. 30, D-50672 Köln
Impressum
Schrappe, M.: Versorgungsforschung als Methode der
Problemdefinition und Evaluation, Version 1.0.0.
M. Schrappe; Versorgungs-
forschung als Methode der
Problemdefinition und Evaluation
Abb. 10: Koordination der Versorgung - das Thema der
Zukunft dürfte in der Koordination der Information und Daten
der Patienten bzw. Bevölkerung liegen.