Die Methode der Problemdefinition setzt eine Beschreibung des Gegenstandes der Versorgungsforschung voraus. Wie oben
bereits angeführt, stehen die Kontextfaktoren im Mittelpunkt, die für die letzte Stufe des Innovationsprozesses von Bedeutung
sind. Diese Kontextfaktoren reflektieren die Komplexität der Situation, in der die Intervention auf einzelne Patienten bzw.
Populationen trifft; in vielen Fällen ist die Intervention (z.B. die
Implementierung einer Leitlinie) selbst von hoher Komplexität
(zur sog. doppelten Komplexität s. auch Schrappe 2014,
Shojania 2013).
Um sich der Thematik weiter anzunähern, ist ein Grundmodell
notwendig (s. Abb. 3). Dieses Grundmodell unterscheidet
zunächst die Patienten bzw. Populationen als Zielgruppen und
Interventionen. Die Interventionen können sowohl aus
definierten Behandlungsmethoden (z.B. Medikamentengabe) als
auch aus komplexen Interventionen bestehen (z.B.
Impfprogramme, Einführung einer Checkliste im Krankenhaus);
komplexe Kontextbedingungen kommen in beiden Fällen vor.
Bei den definierten Behandlungsmethoden sind lineare Modelle
anwendbar, die die Methode durch Verfahren wie Randomisation
von anderen Einflussfaktoren abgrenzen. Bei den komplexen
Interventionen oder wenn komplexe Kontextfaktoren vorliegen,
ist dies nicht oder nur mit sehr viel größeren Schwierigkeiten
möglich.
Weiterhin unterscheidet dieses Modell die Wirksamkeit der Interventionen auf der Ebene der individuellen Patienten und auf
der Ebene von Populationen. Die klinisch-evaluative Forschung (s. Abb. 2) bezieht sich auf die Untersuchung von definierten
Interventionen bei individuellen Patienten und Patientengruppen. Die Versorgungsforschung hat die Wirksamkeit von
Interventionen auf Populationsebene und insbesondere die
Wirksamkeit komplexer Interventionen unter komplexen
Kontextbedingungen zum Gegenstand (effectiveness). Als Beispiel
kann die Evaluation von Leitlinien gelten, einer typischen komplexen
Intervention (s. Abb. 4): die klinisch-evaluative Forschung untersucht
die einzelnen Elemente der Leitlinie durch den randomisierten Versuch,
die Untersuchung der Kontextfaktoren und der Wirksamkeit der Leitlinie
im Alltag (als institutionelle Leitlinie, in ihrer Form als task- oder
Checkliste) wird durch die Versorgungsforschung geleistet.
Es ist unumgänglich, im Zusammenhang mit Versorgungsforschung auf
das Thema Komplexität einzugehen, das in den letzten zwei
Jahrzehnten zunehmend zur Erklärung der Funktionsweise und der
Bedingungen von Innovation im Gesundheitswesen herangezogen
wurdee (Plsek und Greenhalgh 2001, Wilson und Holt 2001, Plsek und
Wilson 2001, Fraser und Greenhalgh 2001). So nutzte das Institute of
Medicine in seinen Reports “To Err Is Human” (Kohn et al. 1999) und
“Crossing the Quality Chasm” (IOM 2001) einen explizit
systemtheoretischen Ansatz und unterlegte damit das gesamte P4P-
bzw. Value-based Purchasing-Programm für die Versorgung von
Medicare-Patienten in den USA (vgl. Schrappe 2014). Ein komplexes System besteht aus zahlreichen, in ihrer Zahl
schwankenden, nicht-linear per multiplem Feedback miteinander verbundenen Teilen, die zu in Zeit und Stärke
unvorhersehbare Ereignissen führen, einzelne, nicht-explizite und veränderbare interne Regeln kennen und zur
Selbstorganisation, Adaptation an die Umwelt sowie zu Lernprozessen in der Lage sind (s. auch Richardson 2008).
Entsprechend der systemtheoretischen Provenienz ist das System größer als die
Summe der Einzelteile, wobei kleine Veränderungen sehr große Effekte aufweisen
können (”Sensibilität gegenüber Anfangsfehlern”, das Schlagen des berühmten
Schmetterlingsflügels). Anders als einem linearem “Maschinenmodell”, das durch
Eindeutigkeit, Trend zum Reduktionismus, Vorhersehbarkeit und dem Versuch der
Spannungsreduktion charakterisiert ist, sind einem komplexen System gerade
Spannung, Angst, Unsicherheit und Paradoxien konstituitiv zu eigen. Es sind
weiterhin sog. Attraktoren, Konstruktionen von Zwischen- und Endzuständen
höherer Stabilität, vorhanden, zu denen das System sich hinorientiert, die aber von
außen nicht sichtbar sind. Komplizierte Systeme (Beispiel Ferrari, zur Abgrenzung s.
Tableau 3) sind dagegen zwar schwer zu verstehen, man kann jedoch trotzdem die Regeln erlernen, und vor allem hat es Sinn,
nach den Regeln zu suchen; bei komplexen Systemen wird man sie dagegen nicht finden. Ein Computer ist zweifelsohne eine
komplizierte Struktur, aber wer hat das Internet erfunden? - das Internet kann ebenso wie das Wetter als paradigmatisches
Beispiel für komplexe Syteme gelten.
Die in diesem Abschnitt geschilderte “doppelte Komplexität” (Schrappe 2014, Shojania 2013) konfrontiert die Klinische
Forschung und somit die Versorgungsforschung als deren Instrument für die Evaluation der “letzten Meile” (Pfaff 2003) mit dem
Dilemma, dass es im Gesundheitswesen Bereiche gibt, die einerseits dringend einer Evaluation bedürfen (weil sonst die
“zweite Translation” in die Alltagsversorgung nicht funktioniert), die andererseits aber die Grundannahme isolierbarer
Einzelfaktoren, die in linearem Zusammenhang miteinander stehen, nicht oder nur ansatzweise erfüllen (s. Kap. 3.2.).
(weiter: 2.2. Nutzen und Bedarf, Angemessenheit)
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2. Methode der Problemdefinition
2.1. Doppelte Komplexität
Abb. 3: Grundmodell: Die Versorgungsforschung beschäftigt
sich mit der Komplexität von Intervention und Kontext,
insbesondere bei der Versorgung von Populationen.
Abb. 4: Versorgungsforschung evaluiert Leitlinien-
Implementierung. Aus nationalen Leitlinien werden durch
tayloring institutionelle Leitlinien sowie task-Listen zur
Aufgabenerfüllung und Checklisten z.B. zur Erhöhung der
Patientensicherheit entwickelt. Die klinisch-evaluative
Forschung validiert die Elemente der Leitlinien, die
Versorgungsforschung evaluiert die Umsetzung und die
untersucht die Kontextfaktoren.
© Prof. Dr. med. Matthias Schrappe, Venloer Str. 30, D-50672 Köln
Impressum
Schrappe, M.: Versorgungsforschung als Methode der
Problemdefinition und Evaluation, Version 1.0.0.
M. Schrappe; Versorgungs-
forschung als Methode der
Problemdefinition und Evaluation
Tableau 3 (vgl. Schrappe 2014): Vergleich
Kompliziert
Ferrari
Computer
Gallen-OP
Dienstanweisung
Kondensation
Kreuzworträtsel
Komplex
Urwald
Internet
Antibiotika-Resistenz
Einführung Leitlinie
Wetter
Schach