Ohne unernst klingen zu wollen: manchmal ist es bei der Begriffsklärung zielführend mit dem zu beginnen, was der Begriff
nicht darstellen soll. Versorgungsforschung hat nichts mit der Cafeteria zu tun (”Versorgungszentrum”), auch der Begriff
“Versorgungsstudien” aus dem deutschen
Sozialgesetzbuch V ist gut gemeint, aber
“Versorgungsforschungsstudien” wäre doch präziser
gewesen (s. Tableau 1). Ebensowenig trifft es der Begriff
“Versorgungswissenschaften”, schon allein der Plural
deutet systematische Beliebigkeit an, und es handelt sich
auch nicht um “Versorgung”, denn diese ist die Praxis, die
Versorgungsforschung stellt dagegen ein Forschungsfeld
dar. Auch auf dem Gebiet der Wissenschaft sind
Verwechselungen an der Tagesordnung:
Versorgungsforschung ist nicht identisch (aber verwandt)
mit Public Health und nicht deckungsgleich mit der
Gesundheitsökonomie (wenngleich die
gesundheitsökonomische Methodik in der
Versorgungsforschung eine enorm wichtige Rolle spielt).
Man kann - etwas grob gezeichnet - vielleicht sagen, dass die Versorgungsforschung im Gesundheitswesen den
Schulterschluss zwischen der Klinischen Forschung und den Sozialwissenschaften ermöglicht hat, ähnlich wie vor 15 Jahren
die Gesundheitsökonomie dies mit den Wirtschaftswissenschaften
erreichen konnte. Aber letztlich muss die Versorgungsforschung
selbst eine Definition bereit stellen und ihre wissenschaftlichen
Grundannahmen darlegen.
Glücklicherweise kann man sich ja auch hier auf die internationale
Literatur beziehen, denn es gibt da zwei Begriffe, die dem
deutschsprachigen Begriff der Versorgungforschung sehr nahe
kommen: outcome research (Clancy und Eisenberg 1998) und
health services research (HSR) (Lohr und Steinwachs 2002; s.
Tableau 2). Diese Begriffe bringen bereits die drei elementaren
Grundpfeiler der Definition der Versorgungsforschung zur
Geltung:
● Ergebnis- bzw. outcome-Orientierung,
● Multidisziplinarität und -professionalität sowie
● Patientenorientierung.
So wird in der in Deutschland meist gebrauchten Definition (Pfaff
2003) Versorgungsforschung zunächst einmal als ein
Forschungsgebiet bezeichnet, also weder um ein einheitliches Fach noch um eine Methodik. Dieses Forschungsgebiet, das
sich durch Multidisziplinarität und Multiprofessionalität auszeichnet, behandelt die Frage, unter welchen Bedingungen die
Versorgungsleistung zustandekommt, durch welche Kontextleistungen (zusätzlich zur Gesundheitsleistung) sie geprägt wird.
Hierbei spielt der sog. effectiveness gap eine große Rolle.
Hierunter versteht man die Differenz zwischen dem
existierenden Wissen aus klinischen Studien und der in der
“Alltagsversorgung” praktizierten Versorgung, meist benannt
durch das Begriffspaar “absolute Wirksamkeit” (efficacy) unter
den Bedingungen des klinischen Versuchs und “relative
Wirksamkeit” unter Alltagsbedingungen (effectiveness) (zur
Nomenclatur s. Sens et al. 2007, SVR 2008, Nr. 579).
Allerdings ist zu berücksichtigen, dass jegliche Definition je
nach eingenommener Perspektive eine andere
Schwerpunktsetzung aufweist (s. Abb. 1). So steht aus der
wissenschaftlichen Sicht vor allem die Fortentwicklung des
Konzeptes der Klinischen Forschung im Vordergrund,
während die Frage: an wen richtet sich die
Versorgungsforschung? also die Frage der Adressaten, sich
mit der Problematik des politischen Systems
auseinandersetzen muss. Hier geht es um Strukturfragen,
aber natürlich auch um Allokationsfragen, und diese sind
diejenigen, wo “Wissenschaft” am meisten unter Rechtfertigungsdruck kommt. Im Einzelnen soll hier auf folgende Facetten
eingegangen werden:
► Versorgungsforschung erweitert die Klinische Forschung um eine vierte Stufe, nämlich die Umsetzung der in linearen
Modellen gewonnenen Erkenntnisse (z.B. randomisierter Versuch zu Medikamenten, efficacy) unter besonderer
Berücksichtigung der Kontextbedingungen (effectiveness, s.
Abb. 2) und schließt damit den Innovationstransfer von der
Grundlagenforschung über die translationale Forschung und
die klinischen Studien ab (s. Abb. 2).
► Die Kontextbedingungen stellen den Gegenstand der
Versorgungsforschung dar. Die Versorgungsleistung, die der
Patient erhält, ist aus der Gesundheitsleistung und der sog.
Kontextleistung zusammengesetzt. Letztere beschreibt die
Fähigkeit, nicht nur die richtige Gesundheitsleistung (z.B.
Medikation) einzusetzen, sondern die Gesundheitsleistung
“richtig” einzusetzen. Hierzu müssen z.B. die Präferenzen des
Patienten, aber auch die Leistungsfähigkeit der Institutionen
oder Ärzte in angemessener Form berücksichtigt werden
(Pfaff und Schrappe 2011, sog. Throughput-Modell).
► Fragestellungen und Ergebnisse der Versorgungsforschung
treten in Wechselwirkung mit deren Nachfragern bzw.
Adressaten. Dies ergibt sich schon durch die Themenwahl und
Finanzierung. Wie sich am Beispiel der Evaluationsarmut der
vergangenen gesundheitspolitischen Reformen eingängig zeigen lässt, hängt das Aufscheinen von Versorgungsforschung in
starkem Maße vom Erkenntnisinteresse derjenigen ab, die den Auftrag geben und die Finanzmittel zur Verfügung stellen.
► Eine ganz spezifische Aufgabe hat die Versorgungsforschung bei der Entscheidungsunterstützung von Allokationsfragen.
Hier ergänzt sie die Evidence-Based Medicine in der Validierung der zugrunde gelegten wissenschaftlichen Erkenntnisse,
indem sie sich besonders mit den Kontextfaktoren beschäftigt, für diese reproduzierbare Ergebnisse liefert und Aussagen zur
Validität dieser Ergebnisse sowie zur Synthese von entsprechenden Studien machen kann (Evidence-Based Health Care, s.
Kap. 3.1.).
(weiter: 2. Methode der Problemdefinition, 2.1. Doppelte Komplexität)
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Textfassung
1. Einleitung und Begriffsdefinition
© Prof. Dr. med. Matthias Schrappe, Venloer Str. 30, D-50672 Köln
Impressum
Schrappe, M.: Versorgungsforschung als Methode der
Problemdefinition und Evaluation, Version 1.0.0.
Abb. 1: Qualitätswettbewerb: Transparenz und Kopplung an
Vergütungsbestandteile als Voraussetzung für eine Verbesserung
von Qualität und Sicherheit - so die Erwartungen
Tableau 1: §35b SGB V “Kosten-Nutzen-Bewertung” AMNOG 2009
M. Schrappe; Versorgungs-
forschung als Methode der
Problemdefinition und Evaluation
Tableau 2: Versorgungsforschung - Definitionen
Outcome research (Clancy und Eisenberg 1998): “the study of
the end results of health services that take patients’ experiences,
preferences, and values into account.”
Health services research (HSR) (Lohr und Steinwachs 2002)
“is the multidisciplinary field of scientific investigation that studies
how social factors, financing systems, organisational structures
and processes, health technologies, and personal behaviours
affect access to health care, the quality and costs of health care,
and ultimately our health and well-being. Its research domains
are individuals, families, organisations, institutions, communities,
and populations.”
Versorgungsforschung (Pfaff 2003, Pfaff und Schrappe 2011)
ist „ein fachübergreifendes Forschungsgebiet, das die Kranken-
und Gesundheitsversorgung und ihre Rahmenbedingungen
beschreibt und kausal erklärt, zur Entwicklung wissenschaftlich
fundierter Versorgungskonzepte beiträgt, die Umsetzung neuer
Versorgungskonzepte begleitend erforscht und die Wirksamkeit
von Versorgungsstrukturen und -prozessen unter
Alltagsbedingungen evaluiert.
Abb. 2: Innovationstransfer als zentrales Konstrukt eines
modernen Konzeptes Klinischer Forschung. Die translationale
Forschung (from bench to bedside) und die Versorgungsforschung
stellen die beiden wichtigsten Transferfaktoren dar (n. Schrappe
und Scriba 2006)