Aus den im letzten Kapitel geschilderten Definitionen von Nutzen, Bedarf und Angemessenheit lassen sich weitreichende
Konsequenzen ableiten (s. Abb. 7).
► In der ersten Linie haben diese Begriffsdefinitionen eine große Bedeutung für die Begründung der Existenz einer
selbständigen Versorgungsforschung. Versorgungsforschung basiert auf dem Terminus des objektiven Bedarfs; für den Fall,
dass man Bedarf mit Nachfrage gleichsetzt, kann
Versorgungsforschung als eigenständiges lnstrument der Absicherung
von Allokationsentscheidungen entfallen, denn Nachfrage ist ein rein
ökonomisches und kein klinisch-wissenschaftliches Kriterium. In
diesem Zusammenhang sind die Versuche zu sehen, den Patienten
über ein falsch verstandenes “Patienten-empowerment” als Nachfrager
zu stärken und die Bedarfsobjektivierung als paternalistische
Überregulierung abzutun. Hiermit soll dabei nicht in Abrede gestellt
werden, dass klinische Forschung und Versorgungsforschung
paternalistische Züge tragen, aber die vollständige Information als
Grundlage für die Ausübung der Nachfrage durch den Patienten ist in
der Gesundheitsversorgung kaum gegeben.
► Die zweite Konsequenz ist im Kontext dieses Artikels jedoch
weitergehend: Wenn nicht nur die klinisch-evaluative Forschung,
sondern auch die Versorgungsforschung den Nutzen beschreibt, dann
muss die Versorgungsforschung ähnlich wie die klinisch-evaluative
Nachbarin Instrumente zur internen Validität ihrer Forschungsergebnisse etablieren. Gerade wenn die Ergebnisse der
Versorgungsforschung bei Allokationsentscheidungen eine Rolle spielen, müssen sich Gesellschaft und Poltik darauf verlassen
können, dass die Versorgungsforschung hohe Anforderungen an Transparenz, Qualität und Validität ihrer
Forschungsinstrumente und Studien stellt und nachweisen kann. Die klinisch-evaluative Forschung hat dieses mit Bravour
getan, die Evidence-Based Medicine kann als etabliertes Instrument gelten, sowohl für die interne Validität der Einzelstudie als
auch - und das ist entscheidend - als Instrument zur Identifikation und zur validen Synthese von Studien (Systematische
Reviews und Metaanalysen).
Dieser Umstand war der Hintergrund für die Entscheidung des Deutschen Netzwerk Versorgungsforschung e.V. (DNVF), sich
intensiv mit der Methodik der Versorgungsforschung zu beschäftigen und entsprechende Arbeitsgruppen und Memoranden auf
dem Weg zu bringen, die wissenschaftliche Standards für Studien in
der Versorgungsforschung zu formulieren versuchen (s. z.B. sog.
Memorandum III, Neugebauer et al. 2010, Pfaff et al. 2010). Diese
Arbeit ist unerlässlich und führt letztendlich zur Entwicklung einer
“EBM der Versorgungsforschung”. In Teilen wird diese Funktion von
Health Technology Assessment wahrgenommen, wenngleich es hier
nach dem allgemeinen Verständnis mehr um die Synthese und
Bereitstellung von Wissen auf Nachfrage (”policy question”) von dritter
Seite geht (sog. HTA-Reports, vgl. Perleth et al. 2008). Es ist daher
unerlässlich, eine Evidence-Based Health Care (EBHC) zu etablieren,
wie dies international auch bereits geschehen ist (Cochrane
Collaboration 2014, Hicks 1997).
EBHC umfasst die Integration von wissenschaftlich begründeten
Interventionen mit den bestehenden Patienten- bzw. Populations-
Präferenzen, und zwar sowohl auf der Ebene medizinisch-
pflegerischer Maßnahmen als auch auf der Ebene komplexer, den
Versorgungskontext betreffender Interventionen (Cochrane Collaboration 2014), s. Tableau 4). Wenn die klinisch-evaluative
Forschung die absolute Wirksamkeit (efficacy) von Behandlungsmethoden beschreibt, daraus den Nutzen wissenschaftlich und
fachlich ableitet und in ihrer Validität durch die Evidence-Based Medicine
beurteilt wird, dann beschreibt die Versorgungsforschung die
Angemessenheit von Methoden i.S. der relativen Wirksamkeit
(effectiveness) und hat die EBHC als Garanten für die Validität ihrer
Ergebnisse und der Wissenssynthese (s. Abb. 8).
Evidence-Based Health Care (EBHC) ist daher als der Oberbegriff für
methodische Ansätze zur Generierung, Synthese und Wertung der
externen Informationsgrundlage sowohl auf der Patienten- als auch
Populationsebene anzusehen (Hicks 1997). EBHC umfasst in diesem
Sinne
● eine Methodik der Identifikation, Synthese und Wertung der externen
Information,
● sowohl auf der Ebene der individuellen Patientenbehandlung als auch auf der Ebene der Versorgung von Patientengruppen
und Populationen,
● bei der individuellen Patientenbehandlung insbesondere die relative Wirksamkeit (Umsetzung) betreffend,
● auf der Ebene des Managements, der Kostenträger oder der Gesundheitspolitik nicht nur therapeutische und diagnostische
Verfahren, sondern vor allem komplexe Interventionen beschreibend (Evidence-Based Public Health) (vgl. Pfaff und Schrappe
2011).
(Weiter: 3. Evaluation, 3.2. Evaluation und Komplexität
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3. Evaluation
3.1. Evidence-Based Health Care (EBHC)
© Prof. Dr. med. Matthias Schrappe, Venloer Str. 30, D-50672 Köln
Impressum
Schrappe, M.: Versorgungsforschung als Methode der
Problemdefinition und Evaluation, Version 1.0.0.
M. Schrappe; Versorgungs-
forschung als Methode der
Problemdefinition und Evaluation
Abb. 7: Angemessenheit bei der Nutzenbeschreibung:
notwendige Bedingung, aber der absoluten Wirksamkeit
(efficacy) nachgeordnet.
Abb. 8: Wirksamkeit, Nutzen und Validität von klinisch-
evaluativer und Versorgungsforschung in der Gesamtsicht
Tableau 4: Definition des Begriffs Evidence-
Based Health Care (Cochrane Collaboration 2014)
“Evidence-based health care is the conscientious
use of current best evidence in making decisions
about the care of individual patients or the delivery of
health services. Current best evidence is up-to-date
information from relevant, valid research about the
effects of different forms of health care, the potential
for harm from exposure to particular agents, the
accuracy of diagnostic tests, and the predictive
power of prognostic factors.”